Daten: All you need is goals?
Deutschland ist in einer Krise. Rudi Völler begründet es auch mit einem „Stürmer-Problem“, auch anderswo wird über die problemlösende Neun diskutiert. Wie schaut es in der Bundesliga aus?
Vorwort: Daten sind kein Gesetz
Ich sagte es bereits bei Der-Jahn-Blog, auch hier gilt, dass Daten nur ein Richtwert sind. Hinter den später angeführten Tabellen steckt einige Arbeit und neben den Zahlen auf dem Papier, steht teils meine persönliche Gewichtung dahinter, dahingehend rechnet mit Schwankungen und auch Überraschungen.
"True discovery consists not in finding new territory, but in seeing things with new eyes." Marcel Proust
So soll es auch hier sein: Es geht nicht darum, dass ich hier euch erzähle, dass Harry Kane oder Victor Boniface nicht die besten Stürmer der Liga sind, sondern darum, inwieweit sich der Hype oder auch die Torausbeute erklären lassen können. Ich möchte euch aufzeigen, welche Spielstile erfolgreich sind und auch, was denn überhaupt Erfolg für den Stürmer bedeutet und wieso es sich von Spieler zu Spieler unterscheidet.
Warum mache ich das alles? Mich stört die Wahrnehmung, dass man Stürmer nur in Tore messen kann, es gibt deutlich mehr Möglichkeiten. Dazu gebe ich hier meinen Leser*innen die Möglichkeit, dass sie eigens interpretieren können und sich die Sachen selbst herausziehen.
Auch möchte ich aufzeigen, welche Spielstile erfolgreich sind und auch, was denn überhaupt Erfolg für den Stürmer bedeutet und wieso es sich von Spieler zu Spieler unterscheidet. Dafür werfen wir den Blick auf verschiedene Metriken, nach welchen man Stürmer bewerten kann. Am Ende versuche ich alle Daten zu einem Index zu vereinen und die Bundesliga-Neuner zu ranken.
Im Folgenden haben die Spieler mindestens 400 Minuten (Stand: 10. Januar; Spieltag 16) absolviert, dazu wurden die Daten vor dem Spieltag erhoben, dahingehend können kleine Schwankungen vorkommen, aber sie halten sich in Grenzen. Die Daten stammen von Wyscout.
Ergänzung: Die Prozentwerte habe ich in Dezimalform umgerechnet, damit die Auswertung einfacher ist.
Unterscheidung 1: Wer holt am meisten aus seinen Möglichkeiten heraus?
Diese Datenreihe zeigt, dass circa genauso viele Tore bei Stürmern erwartet als auch erzielt werden. Im Endeffekt ist es aber nun zu einfach, dass man daraus schließt, die Stürmer der Bundesliga wären qualitativ sehr gut, da sie offensichtlich nach dieser Grafik effizient sind. Vielmehr kann man dies mit der Abschlusspostion erklären: So schließt ein Stürmer sehr häufig in der Box ab, also genau da, wo es am meisten xG gibt. Im Allgemeinen ist es ähnlich, so ist die Differenz von xG zu Toren in der Bundesliga allgemein bei einem Faktor 0,9 und bei den Stürmern circa 1,1.
Dennoch kann man aus der kommenden Statistik personelle Schlüsse ziehen: Wer A) am meisten aus seinen Chancen gemacht hat und B) wer sich statistisch gesehen noch steigern kann und am meisten Potenzial hat, was mit ein bisschen „Glück“ hervorgerufen wird.
Wenig überraschend ist Harry Kane sehr weit oben rechts, also schießt er viele Tore und erarbeitet sich auch einige Chancen. Auf ein Tor kommen im Schnitt 0,9 xG, hört sich effizient an, ist es auch. Auch der vielleicht neue Nationalstürmer Deniz Undav steht in diesem Kreis der Elite, allerdings schießt er leicht weniger Tore pro 90 Minuten als Guirassy, aber erarbeitet sich mehr xG – dennoch kann es sich sehen lassen. Überraschend bestimmt auch Justin Njinmah, er ist nach diesen Werten einer der effizientesten Stürmer der Liga. Auch größere Medien haben das erkannt, wurde bereits als „Tor-Held“ betitelt und könnte zu einer neuen Hoffnung im Sturm werden, wobei er ein anderer Spielertyp als die „traditionelle Neun“ sein sollte, später dazu mehr.
Unterscheidung 2: Wer ist der beste Wandspieler?
Ich oute mich an dieser Stelle als großer Fan des Wandspielers, er kann im Spielaufbau, wenn er mit Rücken zum Tor steht, ein wichtiges Bauteil sein – er vereint die Stärke in der Luft, im Passspiel, mit der im Abschluss. Wie man sieht, die Anforderungen sind nicht gering, es ist wohl mit die schwierigste Aufgabe eines Stürmers, sich mit dem Rücken zum Tor richtig zu entscheiden: Findet man die richtige Lücke, kann man sich drehen oder scheitert es schon bei der Annahme des langen Balles? Wandspieler erleben aktuell eine Renaissance, sie sollen die Kette der Gegner locken und gleichzeitig Räume öffnen, früher war hierfür Miro Klose ein Beispiel, schon neuer, aber auch nicht mehr in der Bundesliga, Sebastian Andersson, welcher mal von „Spielbeobachter“ Mars als „der beste Wandspieler, den ich je gesehen habe“ bezeichnet wurde.
In der ersten Datenreihe habe ich mir herausgenommen, wer am besten in der Luft war und wer die erfolgreichsten Pässe spielten, denn das sind, wie oben beschrieben, zwei essenzielle Eigenschaften eines Wandspielers. Wenig überraschend: Erneut sieht man Guirassy weit vorne, 97 (!) % seiner Pässe kommen im Schnitt an und er gewinnt knapp 75 % seiner Luftduelle. Noch einen kleinen Tick besser ist Jordan Siebatcheu, seine Passquote bei kurzen Pässen ist nahezu perfekt, auch wenn er quantitativ etwas weniger Pässe als der Stuttgarter spielte. Auch Njinmah sticht wieder heraus, so gewinnt er mehr als 90 % seiner Luftzweikämpfe, kann aber nur 45 % seiner Pässe anbringen. Shootingstar von RaBa Leipzig Benjamin Sesko schwächelt hingegen im Passspiel, Leipzig setzt aber auch eher auf tiefe Bälle als auf ein Wandspiel, weswegen man es nicht überbewerten sollte – ähnliches bei Gregoritsch oder auch bei Füllkrug. Sein Dortmunder Konkurrent Sebastian Haller liegt in beiden Bereichen leicht über dem Durchschnitt, nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass er ausdrücklich wegen dieser Rolle geholt wurde. Überraschend: Harry Kane gewinnt weniger als 40 % der Zweikämpfe in der Luft und erreicht im Passspiel einen leicht über durchschnittlichen Wert von 79 % – er wurde zwar vornehmlich als „echte Neun“ geholt, aber er lässt sich auch oft in das zweite Drittel zurückfallen und agiert dort im Wandspiel, jedoch kann man im letzten Drittel oft Schwierigkeiten in der Luft erkennen, wenn er hoch aus dem ersten Drittel angespielt wird.
Unterscheidung 3: Wer hat das beste Gespür für den Raum?
Jaja, der Raum, ein wichtiges und altbekanntes Thema, es ist auch für Stürmer essenziell. So ist es wichtig, dass man schon im Umschaltmoment die Bewegungen der Gegner antizipiert und dann in die richtige Lücke stößt oder wenn man nicht selbst abschließen kann, dass man mit einem Pass einen Raumgewinn erzielen kann. Gerade Karim Benzema ließ sich bei Real Madrid oft ins Mittelfeld zurückfallen und konnte mit progressiven (Raumgewinnenden) Pässen, oft auch in die Tiefe auf Vinicius Jr., überzeugen. Ein Stürmer spielt vielleicht nicht oft solche Pässe, wenn er es aber tut, dann sind es oft entscheidende Bälle.
Ein “progressive run” ist der Lauf eines Spielers, welcher das Team deutlich näher an das gegnerische Tor bringt.
A run is considered progressive if the distance before the starting point and the last touch of the player is:
at least 30 meters closer to opponent goal if starting and finishing points are in own half
at least 15 meters closer to opponent goal if starting and finishing points are in different field halves
at least 10 meters closer to opponent goal if starting and finishing points are in opponent half
Wyscout
Hier hat sich das Bild doch sehr geändert: Siebatcheu war bspw. vorhin noch oben dabei, aber nun ist er unter dem Durchschnitt. Becker ist trotz einer eher mangelhaften Saison vorne dabei, so spielt er mindestens einen progressiven Pass pro Spiel und 0,9 progressive Läufe. Ungefähr auf ähnlicher Ebene sieht man Chaibi, das zeigt auch, wie schnell er mit seiner neuen Mannschaft harmoniert.
Frankfurts neuer Habibi – Hessenschau
Tim Skarke, welcher als Konterstürmer bekannt ist, sticht bei den „progressive runs“ heraus, auch er setzt mindestens 0,9 pro 90 Minuten an und spielt überdurchschnittlich häufig „progressive passes“, somit steht er in einer Reihe von bekannten Namen wie Kramaric oder die bereits genannten Chaibi und Becker. Vielleicht könnte diese Stärke noch im Laufe der Saison für die Lilien wichtig werden.
Unterscheidung 4: Mein Index
Irgendwie braucht der Mensch am Ende aber doch ein Urteil, vor allem im Fußball, dahingehend habe ich die wichtigsten Werte verpackt, sie nach Wichtigkeit (Achtung, subjektiv!) faktorisiert und dann zu einem Endprodukt verrechnet. Als zweite Säule nehme ich die Anzahl der Tore, um einen Vergleich zu haben. Der Index kommt zustande, indem in meinen Augen wichtige Statistiken erst in Zahlen zwischen 0 - 1 umgerechnet, dann multipliziert mit dem Faktor und am Ende zu einem Endprodukt summiert werden. Es ist vielleicht nicht der beste Vergleich, aber ein kleiner Richtwert: Wer ist statistisch am besten, wer trifft am meisten?
Hier kann man altbekannte Namen sehen: Guirassy, Undav und auch Njinmah stehen oben, auch Kane ist im oberen Drittel, aber steht im Statistik-Index eher enttäuschend da, ähnliches gilt für Lücke. Openda ist im allgemeinen Vergleich auch oben dabei, während er beim Wandspiel und dem Raum-Vergleich eher unter dem Radar gelaufen ist. Was lernen wir daraus? Oft ist das Gesamtpaket besser als es einzelne sowie offensichtlichere Werte aussagen.
Kleindienst und Füllkrug fallen in npxG eher in das Mittelmaß der Liga, im Index stehen sie aber doch weiter oben, warum? Sie bewegen sich in Bereichen wie erfolgreiche Dribblings oder auch bei 1rd/2rd/3rd-Assists im oberen Mittefeld, auch in anderen Teilbereichen zeichnet sich dieses Bild ab, dahingehend addiert sich die leicht überdurchschnittliche Leistung in diesen Nischen zu einem Index zusammen, welcher höher ist, als von Stürmern, die zwar in einem Bereich ausßergewöhnlich gut sind, dafür aber woanders eher abfallen.
Schlussworte
Diese Daten zeigen auf: Auch bei Stürmern heben sich einige Leute wie Undav, Guirassy usw. ab, es gibt aber auch Überraschungen wie Njinmah und ein breites Mittelfeld sowie einzelne Enttäuschungen. Es zeigt auch, wie viele Stürmertypen es gibt, bei jedem Vergleich waren teils andere Leute vorne dabei. Am Ende ist es jeden selbst überlassen, dass er sich seine Favoriten herauspickt und seine Meinung bildet. Was mich freut, dass wir einige Leute in der Bundesliga haben, die mit jeder Aktion die Leute von ihren Sitzen reißen können, sei es Boniface mit der Seele eines Flügelspielers, wenn Kane seinen unglaublichen Schuss loslässt oder Becker Räume findet, die niemand sieht. Es wird spannend zu beobachten sein, wie es sich bis zum Ende der Saison entwickelt.
Um auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen, hat denn die Bundesliga ein Stürmerproblem? Nein! Die Bundesliga strotzt gerade so für Stürmern, die außergewöhnliches Niveau haben, aber die Nationalmannschaft sucht weiterhin nach der magischen Neun. Ein weiterer Beweis, dass der DFB in der Ausbildung nach Schlüsseln sucht, während andere der Schlüsseldienst sind. Vielleicht muss man sich aber auch auf andere Spielertypen wie Njinmah einlassen und nicht aussichtslos nach dem klassischen Typus streben.