Für die Wissenschaft – oder für den Lebenslauf?
„Ich hatte immer weniger Lust auf Selbstvermarktung. Mittlerweile unterschieden sich Wissenschaftlerinnen wenig von Unternehmensberatern oder Influencern. Man musste sich und seine Themen als Marke verkaufen, gut sortierte Suchmaschinen-Resultate vorweisen, eine Website pflegen, auf der alle Vorträge, jede winzige Publikation zu finden waren, dazu ein Foto, das Souveränität auszustrahlen hatte. […] Um überhaupt einmal aus den prekären Verträgen rauszukommen und mich für eine Professur zu bewerben, hätte ich schon vor Jahren mit gezieltem Self-Branding anfangen müssen.“
Jenifer Becker, Zeiten der Langeweile, Roman, Hanser 2023.
Ich bin 38 Jahre alt. Davon habe ich 12 Jahre im deutschen Wissenschaftssystem gearbeitet. Wie viel Lebenszeit dabei in das Schreiben von Bewerbungen und Anträgen geflossen ist, habe ich nie ausgerechnet. Wenn ich einen Blick in den Ordner „Anträge und Bewerbungen“ auf meinem Laptop werfe, der Unterordner im hohen zweistelligen Bereich enthält, die zu füllen mich in der Regel jeweils meist mehr als einen Arbeitstag, bei größeren Anträgen teils sogar mehrere Wochen gekostet hat, kann ich aber eines mit Sicherheit sagen: Es war deutlich zu viel Zeit. Zeit, die anderswo fehlte. In erster Linie für meine eigentlichen Kernaufgaben in Forschung und Lehre, für Tätigkeiten in Gremien und Wissenschaftskommunikation. Aber diese Zeit fehlte auch für Freizeit, Erholung, Familienfeiern und Treffen mit Freund_innen. Nur ist es nicht allein die immense Zeitverschwendung, die den Zwang zum dauerhaften Bewerben in der deutschen Wissenschaft so kontraproduktiv macht — für alle, die ihm unterliegen, aber auch für die Wissenschaft selbst. Es ist überdies die verzerrte Perspektive auf unsere Tätigkeit als Wissenschaftler_innen, die wir dabei schleichend internalisieren, und die auch diejenigen auf der anderen Seite der Bewerbungs- und Antragsverfahren gewohnheitsmäßig einnehmen — die, die allein oder in Kommissionen über die eingegangenen Bewerbungen und Anträge entscheiden. Es ist eine Perspektive auf Wissenschaft und die, die sie betreiben, die von der Erwartung getragen wird, dass sich wissenschaftliche Arbeit stets in Ergebnissen niederschlägt, die der Selbstvermarktung zuträglich sind. Und dass Wissenschaftler_innen bitteschön in großem Umfang Zeit investieren, um diese Ergebnisse — und damit sich selbst — auch dementsprechend darzustellen, und zwar so attraktiv wie möglich.
Es geht nicht darum, dass wir einfach unsere Arbeit machen – sondern darum, was im Lebenslauf gut aussieht
Wie oft habe ich schon gedacht: „Ach, super, XY ist erschienen/war erfolgreich — wieder ein Eintrag für meine Publikationsliste/meinen Lebenslauf, der meine Chancen auf eine langfristige Beschäftigung im Wissenschaftssystem ein klitzekleines Bisschen erhöht“? Wie oft habe ich Publikationen oder Vorträge vor allem deshalb zugesagt, weil sie versprachen, der von mir eingeforderten akademischen Selbstdarstellung dienlich zu sein?
Ja, aber, so mag manche_r Leser_in einwenden, Bewerben, liebe Amrei Bahr, tut man sich ja nicht bloß in der Wissenschaft. Und es ist doch auch ein legitimes Anliegen von Arbeitgebern, die Bewerber_innen hinsichtlich ihrer Leistungen und Fähigkeiten einschätzen zu können. Oder etwa nicht? Gewiss, das ist legitim. Allein: In der Wissenschaft bewerben wir uns ständig. Nicht, weil wir gern unser Gehalt verbessern oder aus privaten Gründen in eine andere Stadt ziehen wollen. Sondern weil wir es müssen. Weil wir auf der Straße stehen, wenn wir es bleiben lassen. Verträge sind kurz befristet, und je länger wir im System drin sind, desto größer wird die berechtigte Angst, früher oder später gar nicht mehr im gewählten Beruf arbeiten zu können. Also bewerben wir uns und schreiben Anträge, immer und immer wieder. Wir formulieren Anschreiben, Lehr- und Forschungskonzepte, wir stimmen sie — und mit ihnen die Darstellung von uns als Wissenschaftler_innen — auf immer neue, komplexe Ausschreibungen ab. Wir aktualisieren dauernd unsere Publikationslisten und die Übersicht über unsere Drittmittelerfolge. Wir tragen das, was da drinsteht, nochmal manuell in obligatorische Bewerbungsformulare, Excel-Tabellen und Berufungsportale ein: Redundante Selbstquantifizierung als Fleißarbeit, um denen, die über unsere berufliche Zukunft entscheiden, die wichtigsten Kennzahlen der Marke, die wir selber sind, auf dem Silbertablett zu servieren. Wir arbeiten beständig daran, uns selbst anzupreisen, in dem Wissen, dass es uns die Möglichkeit kosten kann, unseren Beruf als Wissenschaftler_in weiter auszuüben, wenn wir das nicht in einer Weise tun, die richtig gut ankommt. Seitenlang sind unsere Bewerbungen. Immer neu zugeschnitten auf anspruchsvolle Ausschreibungen voller reißerischer Buzzwords, „das Fach in seiner ganzen Breite vertreten“, „internationale Sichtbarkeit“, und nicht selten angereichert mit den heißen Trendthemen (kaum noch eine Ausschreibung ohne Bezug zu Nachhaltigkeit und/oder KI). Ja, auch außerhalb der Wissenschaft bewirbt man sich. Aber dort ist der Regelfall das unbefristete Arbeitsverhältnis. Es geht dabei also nicht ständig um die eigene berufliche Existenz — und den Umfang einzelner wissenschaftlicher Bewerbungen wird man in vielen Branchen aus guten Gründen ebenso wenig erreichen wie deren exorbitant große Anzahl.
Strategisches Handeln zugunsten der akademischen Selbstdarstellung kostet Zeit und setzt Fehlanreize
Ich würde dieser Tage gern an zwei Aufsätzen arbeiten und ein Publikationsprojekt zum Abschluss bringen, das schon viel zu lange darauf wartet, fertiggestellt zu werden. Stattdessen habe ich in der letzten Woche eine Bewerbung und einen Antrag geschrieben. (Auch als Juniorprofessorin stehe ich weiterhin unter dem Druck, all das ständig zu tun, denn meine Juniorprofessur ist ohne Tenure Track: Sie ist auf sechs Jahre befristet, danach ist Schluss — am Ende dieser sechs Jahre werde ich 42 sein.) Dabei hat die Wissenschaft von meinen Bemühungen um die optimale Selbstvermarktung herzlich wenig. Für sie wäre es ohne Frage besser gewesen, wenn ich zum Forschen gekommen wäre. Und für mich übrigens auch. Meinen Studierenden hat es ebenso wenig genützt, dass ich Publikationsliste und Lebenslauf aktualisiert und in möglichst ansprechende Formatierungen umgesetzt habe — die wären froh, wenn ich stattdessen ihre Haus- und Abschlussarbeiten benotet hätte, die sich auf meinem Schreibtisch in beachtliche Höhen türmen. Ohnehin wäre es sicherlich allen Beteiligten dienlicher, wenn wir Wissenschaftler_innen in erster Linie das täten — sowohl inhaltlich als auch was die Wahl der Art unserer Tätigkeiten betrifft —, was wir wissenschaftlich für sinnvoll halten, statt strategisch zu agieren, um möglichst das zu machen, was für unsere Selbstdarstellung in kommenden Anträgen und Bewerbungen besonders aussichtsreich erscheint.
Liebes deutsches Wissenschaftssystem: Wir leben in einer Zeit der vielfältigen Krisen. Die aktuelle politische Situation in Deutschland ist beängstigend, und es ist nicht zuletzt an uns, dem etwas entgegenzusetzen. Gerade jetzt ist es wichtig, dass wir unter guten Bedingungen arbeiten können. In der Forschung. In der Lehre. In der akademischen Selbstverwaltung und in der Wissenschaftskommunikation. Das wird stark erschwert, wenn Wissenschaftler_innen gezwungen sind, Influencer_innen zu sein, die sich selbst unablässig als Produkt bewerben müssen. Wenn wir bei allem, was wir tun, vor allem darauf achten müssen, dass und ob es sich dazu eignet, uns selbst als Marke zu etablieren und zu verkaufen. Das kostet in der Summe unfassbar viel Zeit und Energie, die furchtbar schlecht investiert ist. Also bitte: Lasst uns einfach unsere Arbeit machen. Ohne Kettenverträge und mit echten beruflichen Perspektiven. Denn selbst, wenn wir am Ende als akademische Selbstdarsteller_innen hinreichend attraktiv für Euch sein sollten, gilt für uns immer mehr: Eure Arbeitsbedingungen sind es nicht.