Weg mit #SemesterUnvereinbar, her mit einem familienfreundlicheren Wissenschaftssystem!
Von einem Wissenschaftssystem, das das Prädikat „familienfreundlich“ verdient, sind wir in Deutschland leider nach wie vor meilenweit entfernt. Höchste Zeit, das zu ändern! Die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ist ein zentraler Ansatzpunkt dafür, denn berufliche Unsicherheit und Perspektivlosigkeit tragen zur Familienfeindlichkeit des Systems bei — und das lässt sich über das WissZeitVG ändern, u.a. mit Mindestvertragslaufzeiten in der Promotion, einer Anschlusszusage für Postdocs und einer zielführenden familien- und inklusionspolitischen Komponente.
Aber klar ist auch: An anderen Stellen müssen die Weichen ebenfalls neu gestellt werden, wenn unser Wissenschaftssystem (nicht nur) für Eltern gerechter werden soll. Im Landtag Nordrhein-Westfalen wird am 19.4. auf Antrag der Fraktion der SPD eine aussichtsreiche Maßnahme dafür diskutiert: die Harmonisierung der Semesterzeiten mit den Schulferien. Denn aktuell müssen Eltern in NRW mehrere Wochen des Semesters gleichzeitig mit zusätzlichen Betreuungsanforderungen aufgrund der Schulferien und dem laufenden Betrieb der Vorlesungszeit jonglieren. Ich bin im Landtag als Sachverständige dabei und spreche mich für eine solche Harmonisierung aus – hier meine Argumente (in Form einer gekürzten Version meiner schriftlichen Stellungnahme):
Mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf im deutschen Wissenschaftssystem und ihre Effekte
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf lässt im deutschen Wissenschaftssystem nach wie vor stark zu wünschen übrig. Während sich bereits der größte Teil der Promovierenden Kinder wünscht (73% der kinderlosen Promovierenden haben einen Kinderwunsch, vgl. BuWiN 2021, S. 168), haben Wissenschaftler_innen sehr viel seltener Kinder als Akademiker_innen in anderen Branchen. So liegt der Anteil der Eltern bei den unter 35-jährigen Wissenschaftler_innen nur bei 9,9%, während er mit 20% bei in anderen Branchen tätigen Hochschulabsolvent_innen mehr als doppelt so hoch ist (vgl. BuWiN 2021, S. 167).
Angesichts der mangelnden Familienfreundlichkeit des Wissenschaftssystems sind diese Zahlen nicht verwunderlich: Eltern, die in der Wissenschaft tätig sind, erleben erhebliche Benachteiligungen. Von den promovierenden Eltern, die erwägen, die Promotion abzubrechen, führen 75% der Mütter und 60% der Väter dies auf mangelnde Vereinbarkeit zurück (vgl. BuWiN 2021, S. 169).
Mangelnde Vereinbarkeit schadet der Gleichstellung
Hier zeigt sich bereits, dass die mangelnde Vereinbarkeit auch Konsequenzen für die Gleichstellung hat: Es sind gerade Frauen, die als Mütter aufgrund von mangelnder Vereinbarkeit die wissenschaftliche Karriere abbrechen – oder gar nicht erst aufnehmen: „Elternschaft verringert die Wahrscheinlichkeit zur Aufnahme einer Promotion bei Frauen stärker als bei Männern“ (BuWiN 2021, S. 143).
Zudem stellen gerade Frauen ihren Kinderwunsch zugunsten der wissenschaftlichen Karriere zurück, was langfristige Konsequenzen für die eigene Lebensplanung hat: „Obwohl der Kinderwunsch beim wissenschaftlichen Nachwuchs […] hoch ist, ist zu vermuten, dass insbesondere bei den Wissenschaftlerinnen ein hoher Anteil kinderlos bleibt“ (BuWiN 2021, S. 31). Mangelnde Vereinbarkeit wird dabei als einer der zentralen Gründe für das Zurückstellen der Familienplanung genannt (vgl. BuWiN 2021, S. 31). Männern gelingt es überdies deutlich häufiger als Frauen, die Familiengründung nach dem Erlangen einer Lebenszeitprofessur nachzuholen (vgl. BuWiN 2021, S. 163): Während drei Viertel der Professoren Eltern sind, gilt dies nur für die Hälfte der Professorinnen (vgl. BuWiN 2021, S. 167).
Negative Konsequenzen mangelnder Vereinbarkeit
Aus der mangelnden Vereinbarkeit von Familie und Beruf im deutschen Wissenschaftssystem ergeben sich somit drei nicht wünschenswerte Konsequenzen:
A) Eltern werden im aktuellen deutschen Wissenschaftssystem gegenüber Wissenschaftler_innen ohne Kinder benachteiligt.
B) Viele Wissenschaftler_innen sehen sich gezwungen, sich zwischen wissenschaftlicher Karriere und Elternschaft zu entscheiden, was für die Betreffenden eine unzumutbare Einschränkung ihrer Lebensentscheidungen darstellt.
C) Die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf benachteiligt Frauen stärker als Männer; ein beachtliches Hemmnis bei der Erreichung des allgemein anerkannten Ziels der Gleichstellung.
Harmonisierung von Semesterzeiten und Schulferien: Eine bedeutsame Maßnahme zur Steigerung der Vereinbarkeit
Eine Harmonisierung der vorlesungsfreien Zeit mit den Schulferien stellt eine ebenso bedeutsame wie gut umsetzbare Maßnahme dar, um diesen Problemen zu begegnen.
Folgende Argumente sprechen dafür, Vorlesungszeiten auf die Schulferien abzustimmen:
1) Die Benachteiligung von Eltern gegenüber Wissenschaftler_innen ohne Kinder wird deutlich abgemildert: Eltern müssen für die Überschneidung von Schulferien und Vorlesungszeit keine zusätzliche Betreuung ihrer Kinder organisieren. Das bedeutet organisatorisch und finanziell eine beträchtliche Entlastung. Insbesondere für die große Zahl befristet beschäftigter Wissenschaftler_innen (92% der unter 45-Jährigen ohne Professur sind befristet beschäftigt, vgl. BuWiN 2021, S. 29), die aufgrund ihrer unsicheren beruflichen Situation oftmals geringe organisatorische und finanzielle Spielräume haben, stellt dies eine große Erleichterung dar.
2) Das Wissenschaftssystem wird durch die Harmonisierung familienfreundlicher, wodurch die Zuspitzung einer Entscheidung zwischen Kindern und wissenschaftlicher Karriere abgemildert wird. Eltern wird es leichter gemacht, eine wissenschaftliche Karriere aufzunehmen und fortzuführen; Personen mit Kinderwunsch erleben innerhalb des Wissenschaftssystems eine Hürde weniger bei der Umsetzung dieses Wunsches.
3) Auch für Studierende mit Kind(ern) oder Kinderwunsch stellt die Harmonisierung einen großen Gewinn für die Vereinbarkeit familiärer Pflichten mit dem Studium dar.
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Gründe für eine Harmonisierung halten auch möglichen Einwänden stand
Für den Übergang wird die Umgestaltung der Semesterzeiten zwar administrative Anpassungen nötig machen. Auch die im Wissenschaftssystem Beschäftigten müssen sich auf die neuen Zeiten einstellen. Diese Veränderungen sind jedoch weitgehend kostenneutral umsetzbar, im Umfang insgesamt überschaubar und gemessen an der zu gewinnenden Zunahme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf allen Beteiligten zumutbar. Das gilt selbst dann, wenn die Vorteile einer vergleichsweise kleineren Gruppe zugutekommen als der, die die Anpassungen mittragen muss. Dass im Sinne des Nachteilsausgleichs die Interessen einer kleineren Gruppe zum Anlass genommen werden, eine größere, selbst nicht betroffene Gruppe bei der Unterstützung dieser kleineren Gruppe einzubinden, ist hier moralisch gerechtfertigt und wird in unserer Gesellschaft auch sonst aus guten Gründen häufig praktiziert: Zu nennen wären etwa das aus Steuermitteln finanzierte Elterngeld oder steuerliche Entlastungen für Familien, die den insgesamt 14,8 Millionen Eltern (vgl. Statistisches Bundesamt: Mikrozensus 2019) in Deutschland zugutekommen und von der gesamten Bevölkerung mitgetragen werden.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass die Harmonisierung nach einer kurzen Übergangsphase etabliert sein wird und dann aufseiten der Hochschulen und ihrer Beschäftigten keinerlei Anpassungsleistungen mehr vonnöten sind.
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Aufgrund ihrer unproblematischen Realisierbarkeit bei gleichzeitig deutlichen positiven Effekten auf Familienfreundlichkeit und Gleichstellung stellt eine entsprechende Harmonisierung […] eine zentrale Maßnahme dar, die entsprechend umgesetzt werden sollte. Das Land Nordrhein-Westfalen sollte hier die Chance ergreifen, durch eine solche Harmonisierung seine Attraktivität als Wissenschaftsstandortdurch familienfreundlichere Beschäftigungsbedingungen zu stärken. Nordrhein-Westfalen kann hier auch gegenüber anderen Bundesländern eine wichtige Vorreiterrolle einnehmen.
Aus den genannten Gründen und unter Abwägung möglicher Einwände befürworte ich eine Harmonisierung der Vorlesungszeiten mit den Schulferien ausdrücklich.
Ihr könnt Euch ebenfalls zur Harmonisierung äußern: Twittert unter dem Hashtag #SemesterUnvereinbar und helft mit, dem Thema noch mehr Aufmerksamkeit zu verleihen!
Und was gibt’s Neues, #IchBinHanna?
Die Anschlusszusage kristallisiert sich immer mehr als vielversprechendes Instrument heraus, um die Postdoc-Phase im WissZeitVG mit einer echten Perspektive zu versehen. Inzwischen sprechen sich zahlreiche Beteiligte für eine Anschlusszusage aus, darunter sowohl Vertreter_innen der Arbeitnehmer-, als auch der Arbeitgeberseite — für einen Überblick über die Befürworter_innen der Anschlusszusage habe ich einen Twitter-Thread erstellt.