Prolog
Diese Woche war “Internationaler Tag gegen Rassismus”. Ein wichtiges Datum. Ich habe Rassismus selbst erlebt und mich bereits aktiv dagegen engagiert, als viele, die den Begriff nun unzulässig erweitern und damit entwerten, noch mit der Trommel um den Weihnachtsbaum gelaufen sind. Das war zu Prä-Internet Zeiten, als ein solches Engagement nicht selten auch körperliche Auseinandersetzungen beinhaltete, man sich noch nicht hinter Bildschirmen verstecken konnte, der heute verbreitete Gratismut unmöglich war. Ich weiß, wie sich eine Faust im Gesicht und ein Messer am Hals anfühlen.
Einige Jahre lang saß jeden Morgen im Bus zur Schule ein Nazi-Skinhead, der mich hasste und mir das auch deutlich zu verstehen gab. Ich bin jeden Tag mit Bauchschmerzen eingestiegen. Seinen Namen weiß ich bis heute. Er gehörte zu einer Gruppe Neonazis, die mich besonders im Blick hatte, weil ich nicht nur dunkelhäutig bin, sondern auch schon damals meine Meinung offen kundtat.
Diese Gruppe sprühte nicht nur “Wir kriegen Dich, Du dreckiger Nigger!”, verziert mit Hakenkreuzen und White Power-Symbolen, an die Mauer gegenüber des Hauses meiner Eltern. Sie passte mich auch regelmäßig ab.
Das war keine leichte Zeit. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, klein beizugeben und habe mich nicht eine Sekunde lang als Opfer empfunden. Das Engagement gegen Rassismus, welcher von jedem ausgehen und sich gegen jeden richten kann, bleibt wichtig. Den inzwischen in Mode gekommen “erweiterten” Rassismusbegriff lehne ich allerdings ab. Nicht jede Form der Diskriminierung ist Rassismus. Auch die Behauptung von strukturellem Rassismus in Deutschland ist unzutreffend. Nur, wenn Begriffe sauber verwendet werden, können Phänomene korrekt beschrieben und Probleme gelöst werden.
Interessant fand ich auch, dass im Verwaltungsrat der Credit Suisse mehrheitlich Frauen sitzen. Seit Jahren wird, zum Beispiel in Diskussionen um Quoten, behauptet, Frauen in Machtpositionen würden sich völlig anders verhalten, als Männer. Der Aktuelle ist nur einer von vielen Fällen, die das widerlegen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich sollten Frauen im Wettbewerb um Führungspositionen genauso in Betracht gezogen werden, wie Männer. Man sollte sich aber auch bei diesem Thema an Fakten halten.
Meinen Humor traf die Nachricht, dass Greta Thunberg die Ehrendoktorwürde in Theologie der Universität Helsinki erhält. Monty Python wären heute arbeitslos.
Nun aber los. Heute geht es unter anderem um Freiheit, Arbeitsrecht und Identität.
Politik und Gesellschaft
Ein weiterer Einzelfall in der Serie “Cancel Culture ist ein Mythos.” spielte sich auf der diesjährigen Berlinale ab. Die Premiere eines Films wurde aufgrund des Drucks einer Aktivistengruppe wenige Minuten vor Beginn abgesagt.
Am 19. Februar schickte eine bis dahin weithin unbekannte "Anti-Racism Taskforce for European Film" (Artef), einen Brief an die Kuratoren der Generation-Reihe, sie hätten große Bedenken, "Sowas von super!" würde rassistische Stereotype bedienen.
Der erste Teil dieses Satzes ist schlichtweg falsch. Die Helden verwandeln sich nicht in Löwen. Sie ziehen ein Superheldenkostüm an, das ihnen Löwenkräfte verleiht. Sie gehen aber weiterhin auf zwei Beinen und sehen, abgesehen von einer stilisierten Löwenmähne, eindeutig wie Menschen aus. Und was den Vorwurf des Blackfacing und die damit verbundene "stereotype Darstellung von People of Color" angeht: Das Kostümfell ist kombiniert mit einer schwarzen Maske, die, ebenso wie die schwarzen Handschuhe, an die ebenfalls schwarzen Augenmasken von Zorro oder, näher am Genre, an die Masken und Handschuhe der "Incredibles"-Familie erinnern. Bisher gab es weder in Norwegen noch bei der Pressevorführung vor der Berlinale Beschwerden über dieses Outfit.
Nun hätte es fruchtbar sein können, die Vorwürfe, unterschiedlichen Sichtweisen oder eben auch gefährlich blinden Flecke nach dem Film zu diskutieren. Die Berlinale aber sagte die Premiere ab. Was auf den ersten Blick aussehen mag wie Zensur, kommt einem im Nachhinein eher wie Panikverhalten der Berlinale vor. Die vier anderen programmierten Vorstellungen fanden wie vorgesehen statt, (eine im Beisein des Regisseurs), jeweils versehen mit einer Triggerwarnung, der Film enthalte Elemente, die als Stereotypisierung von People of Color lesbar sein könnten.
Das Norwegische Filminstitut (NFI) sah sich besonders zur Verteidigung von "Helt super" aufgerufen. Es kündigte seine Kooperation mit Artef und schrieb in einem offenen Brief, man sei "zutiefst besorgt über die Folgen, die dieser Vorfall für die künstlerische Freiheit der Filmemacher und die redaktionelle Freiheit und Unabhängigkeit internationaler Festivals haben könnte".
Besonders kritisiert wurde, dass der Direktor der mächtigen Europäischen Filmakademie (EFA), Matthijs Wouter Knol, nebenbei auch Direktor von Artef und Mitglied von dessen neunköpfiger Lenkungsgruppe war.
Das Mädchen mit der Maske - Süddeutsche Zeitung
Die Frage, ob Arbeitgeber ihren Mitarbeitern das Tragen religiöser Symbole verbieten können, erhitzt besonders im Zusammenhang mit Kopftüchern seit Jahren die Gemüter. Medien berichten regelmäßig über Fälle, in denen wegen diesbezüglicher Unstimmigkeiten Gerichte angerufen werden. Der EuGH im Oktober dazu ein interessantes Urteil gefällt, das von Rechtsanwalt Dr. Severin Gotthard Kunisch in einem lesenswerten Artikel eingeordnet wird.
Der EuGH urteilte nun, dass eine Arbeitsordnung, die es Beschäftigten verbiete, ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen durch Worte, Kleidung oder auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, solche Arbeitnehmer nicht diskriminiere, die ihre Religions- oder Gewissensfreiheit durch sichtbares Tragen eines Bekleidungsstücks mit religiösem Bezug ausüben möchten. Dies allerdings nur, wenn die Arbeitsordnung allgemein und unterschiedslos angewandt werde. Schließlich würden alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt, da undifferenziert eine neutrale Kleidung vorgeschrieben werde. Da jede Person (irgend)eine religiöse, weltanschauliche oder spirituelle Überzeugung habe und die Arbeitsordnung alle betreffe, finde keine Ungleichbehandlung statt. Zwar sei eine mittelbare Benachteiligung denkbar, wenn die Arbeitsordnung faktisch nur Personen einer bestimmten Religionsgruppe betreffe. Eine mittelbare Diskriminierung könne jedoch durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt werden. Der Wille des Unternehmens, im Verhältnis zu den Kunden eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, sei ein solches rechtmäßiges Ziel, das Ausdruck der unternehmerischen Freiheit sei.
Da das deutsche AGG den bereits angesprochenen europäischen Hintergrund hat, ist das vorliegende Urteil des EuGH auch für deutsche Unternehmen relevant: Unternehmen wird erlaubt, durch eine (betriebliche) Arbeitsordnung die unternehmerische Neutralität auch für ihre Beschäftigten verbindlich einzuführen. Die Arbeitsordnung und die Durchsetzung derselben muss allerdings unterschiedslos und allgemein gelten. Beispielsweise darf das islamische Kopftuch nicht anders als das christliche Kreuz an Halsketten oder der Wand behandelt werden. Andernfalls drohen diskriminierungsrechtliche Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche nach dem AGG.
Der Soziologe Nicolas Langlitz hat der NZZ ein hochinteressantes Interview zu Themen gegeben, die in diesem Newsletter bereits von Anfang an eine Rolle spielten. Die Beobachtungen und Schlußfolgerungen werden für den geneigten Leser also nicht durchgehend Neuigkeiten sein. Sie in dieser kompilierten Form zu lesen, hat mir allerdings gut gefallen. Vor allem hatte es beruhigende Wirkung: Selbst in den USA, dem Land, in dem leider auch viele unangenehme Phänomene ihren Anfang nehmen, gibt es offensichtlich noch genug Menschen, die ihren Verstand nicht verloren haben.
Statt sich zu prügeln, appelliert man an Dritte, die den Täter bestrafen. Die Gerichte helfen allerdings oft nicht, weil viele Überschreitungen subtil sind. Stattdessen trommelt man in den sozialen Netzwerken einen Mob zusammen oder wendet sich an eine der vielen Instanzen an amerikanischen Universitäten, bei denen man Mitstudenten oder Professoren anzeigen kann, wenn man sich diskriminiert fühlt. Während es in der Ehrkultur einen Gesichtsverlust bedeutet, als Opfer zu erscheinen, kann das in der Opferkultur den sozialen Status erhöhen; man kann daraus Ansprüche ableiten, die Gehör finden.
Kann man diesen Trend in politische Kategorien von links und rechts einordnen?
Er existiert sowohl bei der identitätspolitischen Linken wie bei der populistischen Rechten. Auch wenn Donald Trump eher Produkt einer Ehrkultur zu sein scheint und gerne zurückschlägt, stilisiert er sich ständig zum Opfer hoch, und seine Anhänger können sich bestens mit seinem Opferstatus identifizieren. Gegenwärtig bereiten die Republikaner eine parlamentarische Untersuchungskommission vor, die die staatliche Unterdrückung Konservativer aufklären soll. An den Universitäten stehen sich dagegen nicht Progressive und Konservative gegenüber. Konservative Professoren gibt es kaum, vor allem nicht in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Es geht eher um eine moralisierte Opferdiskussion, die auch die Wissenschaften ergreift.
Im August 2022 erklärten die Herausgeber der Zeitschrift «Nature Human Behaviour», bei der Begutachtung eingereichter Manuskripte werde deren Inhalt ab sofort auch moralisch beurteilt. Man bindet Ethiker in den Prozess ein, die wissenschaftliche Arbeiten auf rassistische, sexistische und LGBTQ-feindliche Implikationen abklopfen. Es werden keine Studien mehr veröffentlicht, die bestimmte Gruppen stigmatisieren oder die zu politisch ungewollten Zwecken genutzt werden könnten. Autoren, die selbst nicht der untersuchten Gruppe angehören, sollen ihre eigene privilegierte Perspektive reflektieren. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Fachpublikationen so grossen Schaden anrichten können, dass der Schutz möglicher Opfer mehr zählt als die Wissenschaftsfreiheit. Im Extremfall wird die moralische Kategorie «gut/schlecht» wichtiger als die wissenschaftliche «wahr/falsch».
Ursprünglich stammt die Idee, vielfältige und widerstreitende Perspektiven einzubeziehen, aus der politischen Philosophie des Liberalismus. Das war auch die Logik der gerichtlich verordneten Educational Diversity. Aber warum werden vor allem die Perspektiven von Menschen verschiedener Hautfarben und Geschlechter als wichtig erachtet? Würde es beispielsweise die Perspektivenvielfalt in der Evolutionsbiologie nicht mehr erhöhen, wenn man statt eines hispanischen Darwinisten einen evangelikalen Kreationisten berufen würde? Ist es nicht ein Problem, dass sich unter den Professoren für Wirtschaftswissenschaften keine Superreichen befinden? Sollten die linksliberal dominierten Sozialwissenschaften nicht auch politisch breiter werden? Würde es dann genügen, gemässigte Konservative einzustellen, oder müsste man auch Neonazis und Jihadisten berufen? Das Prinzip der Diversität kann sich nicht selbst begrenzen; es sagt einem nicht, wer ein- oder auszuschliessen ist.
Kritiker monieren, dass die Wahrnehmung einer Mikroaggression mehr über das «Opfer» als den «Täter» aussagen kann. Aber laut Sue ist nur die Interpretation des Opfers massgeblich. Subjektivität sticht Objektivität. Viele amerikanische Hochschulen haben sich aus politischen Gründen Sues Camp angeschlossen und Microaggression Policies erlassen, die Studierende dafür sensibilisieren, Mikroaggressionen zu erkennen und zu ahnden. Das produziert Rückkoppelungseffekte: Studierende lernen, wachsamer zu werden und ihr Umfeld ständig auf Mikroaggressionen zu überprüfen. Der Gesundheitsdienst meiner Universität nennt als Beispiele für solch inakzeptables Verhalten Kurse, in denen primär weisse Autoren gelesen werden, zu schmale Stühle, auf denen beleibtere Menschen nicht bequem sitzen können, Studierende, die andere nicht nach ihren Geschlechtspronomen fragen, Professoren, deren Identität nicht das Identitätsspektrum der Studierenden abbildet. Mit dem Konzept der Mikroaggression sollen die Hochschulen umgestaltet werden.
«Die neue Opferkultur versteht den Menschen als zutiefst fragil» - Neue Zürcher Zeitung
Zum Ende der Rubrik wieder Sehenswertes. Vor allem diejenigen, die permanent Toleranz predigen, halten es nicht aus, dass es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine Minderheit von Comedians und Kommentatoren gibt, die nicht links der Mitte zu verorten ist. Das ist vielsagend. Dieter Nuhr, dessen Entlassung nach jeder seiner Sendungen gefordert wird, war in der Sendung “Maischberger” zu Gast und hat sich zu verschiedenen Themen geäußert.
Dieter Nuhr gehört zu Deutschlands erfolgreichsten Kabarettisten, er steht seit fast 30 Jahren auf der Bühne und beschäftigt sich mit politischen und gesellschaftlichen Debatten. Mit Sandra Maischberger spricht der Kabarettist über den Ukraine-Krieg, die Grünen und seine Karriere.
Lukas Rietschel und Uwe Tellkamp diskutierten in der Dresdner Frauenkirche.
Sprache ist wirkmächtig. Sie prägt unser Denken und Handeln. Sie stiftet Identität. Unbestritten gehört die Freiheit des Wortes zu den Fundamenten der Demokratie. Das Recht auf Meinungsfreiheit verbrieft die Möglichkeit des Einzelnen, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Es ist erlaubt und erwünscht, sich öffentlich zu äußern, einzumischen, Stellung zu beziehen. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigt ein Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus in Länder, wo öffentlich geäußerte Kritik staatlich unterdrückt und sanktioniert wird. Im Zuge einer Dynamisierung vielfältiger Wandlungsprozesse sind gegenwärtig weltweit Radikalisierungstendenzen in Politik und Gesellschaft zu verzeichnen. Nationalistische und rassistische Strömungen nehmen zu; ein ethischen Grundsätzen verpflichteter Verhaltenskonsens verliert auch in demokratischen Staaten an Selbstverständnis und Geltung bis hin zu einer Unterwanderung der Demokratie, die sich offensichtlich in einer Krise befindet. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es um die Freiheit des Wortes als eine der Stärken der demokratischen Gesellschaft in unserem Land steht. Gestaltet sich der öffentliche Diskurs so frei, wie es u.a. in der friedlichen Revolution 1989 gefordert wurde, oder gibt es Einschränkungen, die zur Marginalisierung von Meinungen und zum Ausschluss vom öffentlichen Diskurs führen?
Patrick Bahners sprach mit Jan Feddersen über sein neues Buch.
Patrick Bahners argumentiert in seinem neuen Buch „Die Wiederkehr. Die AfD und der neue deutsche Nationalismus“, dass ein neuer und allgegenwärtiger Nationalismus in unser demokratisches System und unsere Institutionen Einzug gehalten hat. In seiner Analyse zeigt Bahners, dass Nationalismus indes in allen Parteien gefunden werden kann und dass dies unsere demokratische Kultur nachhaltig verändern kann.
Die “Denkfabrik R21” lud zu einer weiteren Tagung. Diesmal ging es um das Thema “Deutschland nach der Ära Merkel”. Sehr interessant.
Im Schlagwort der „Zeitenwende“ bündeln sich die einschneidenden Veränderungen ebenso wie die gewaltigen Herausforderungen, vor denen unser Land steht und die nahezu alle Politikfelder betreffen. Wie aber sieht die bürgerliche Antwort auf die Zeitenwende aus? Wer diese Frage beantworten will, muss mit einer Bestandsaufnahme beginnen. Die Denkfabrik R21 möchte unter dem Titel "Deutschland nach der Ära Merkel" diese Bestandsaufnahme der deutschen Politik vornehmen, um Lehren für die Gegenwart zu ziehen und Perspektiven für die Zukunft einer kohärenten bürgerlichen Politik zu entwickeln. Die Leitfrage lautet dabei: Was müssen wir fortsetzen und was muss sich ändern?
Emilia Roig, Julia Klöckner und Jörg Scheller diskutierten, moderiert von Michel Friedman, im Rahmen des “SWR Demokratie-Forums” über das Thema “Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?”.
Identitätspolitik ist umstritten: Viele sind genervt von Gender-Debatten oder Diskussionen um Unisex-Toiletten. So geht es auch der rheinland-pfälzischen CDU-Bundestagsabgeordneten Julia Klöckner, die kritisiert: "Wir müssen erstmal definieren, was wir unter Gendern verstehen. Ich sage Verbraucher, Bürger. Ich schreibe aber keinen Doppelpunkt und kein Sternchen oder sonstwas. Und ich darf auch angenervt sein von übertriebenem Gendern." Wer sich dagegen wegen des Geschlechts, der Herkunft oder der sexuellen Orientierung benachteiligt oder gesellschaftlich nicht repräsentiert fühlt, kämpft um Anerkennung und Gleichberechtigung. Für den Kunstwissenschaftler Jörg Scheller ist die Herausforderung, eigene Anliegen zu artikulieren, ohne andere zu schubladisieren. Er warnt davor, Kategorien wie „Weiß, Schwarz, Mann, Frau als neuerliche Zuschreibungen zu reproduzieren“ und „neue scheinbar homogene Gruppen zu konstruieren“. Die Autorin Emilia Roig dagegen, verweist darauf, dass es immer auch eine Machtfrage ist, wer wen als schwarz oder weiblich definieren kann. „Wenn Frauen anfangen würden, massiv alte weiße Männer zu beleidigen, würde das die Macht nicht umkehren“, so Roig. Sie wären anschließend trotzdem nicht in Aufsichtsträten, so Roig. Es komme darauf an, wer die politische, kulturelle und wirtschaftliche Macht habe, um gegen andere zu diskriminieren.
Auch in diesem Jahr wurden zum sogenannten “Equal Pay Day” in den Medien wieder Halb- und Unwahrheiten verbreitet. Inzwischen kann man da wohl nicht mehr von einem Versehen ausgehen. Wer sich für Fakten interessiert, dem sei dieses Video, übrigens von einer Frau konzipiert und moderiert, ans Herz gelegt. Differenziert und faktenbasiert, wie man sich diesem komplexen Thema eben nähern sollte.
Kultur
Michel Würthle, Künstler und Betreiber der Berliner “Paris Bar” ist gestorben. Damit ist ein weiterer wichtiger Teil des alten West-Berlins verschwunden. Moritz von Uslar hat einen schönen Nachruf verfasst.
Die bella figura, die Kunst also, beim endlosen Bla über die jeweils neue Ausstellungseröffnung, den aktuell nervenden Feuilletonartikel, das neueste Gerücht über Florian David Fitz und die leider langweilige, weil viel zu oft gehörte Empörung über den geplanten Neubau des Museums des 20. Jahrhunderts die richtige Halbdistanz zu bewahren – Michel Würthle wechselte immer dann, wenn es zu doof oder zu tiefsinnig wurde, den Tisch – das waren er, der Gastgeber, und seine Feinheit, seine viel gerühmte Klasse, Eleganz, Musikalität und sein Rhythmusgefühl.
Auf seine Stammgäste angesprochen, sagte der Paris-Bar-Chef einmal, das war astreiner Würthle-Schmäh: "Wen sollst du da hervorheben ... mir gehen sie alle auf die Nerven."
Sein Style, das war immer auch: Wir halten zu Berlin, und wir wollen weit hinausgucken über das provinzielle Deutschland – in der Kunst, im Flirten, in der geistvollen, von eiskalten Wodka-Shots aufgeheizten Debatte, mit einer alten Musikbox (Suspicious Minds und Griechischer Wein), die Bruno Brunnet einst in der Paris Bar installiert hatte, und in der Anmaßung, dass jenseits der Kunstzentren New York, London und Hongkong ausgerechnet auf der Kantstraße am besten gefeiert wird.
Sein ganzes Leben lang ist Michel Würthle Zeichner gewesen (Bleistift, Kugelschreiber, Filzstift, Tusche, Kohle auf Papier), ein freier und eigenwilliger Zeichner dazu, irgendwo – warum hier nicht die große Einordnung wagen – zwischen den Beckmannschen Nachtgestalten, den Köpfen von Dix und Grosz, den französischen Karikaturisten, dem von ihm verehrten Dieter Roth und dem gerne immer als Referenz herangezogenen Raymond Pettibon. Art brut konnte man das nennen, Außenseiter-Kunst. Würthle war auch ein Wortkünstler ("Mir träumte von einem Langhaar-Kamelhaar-extrem-Ulster mit grauer Persianerfütterung") und ein begnadeter Typograf.
Das sagt man immer so: dass mit dem Tod eines Menschen, der vielen viel bedeutet, ein Zeitalter endet. Michel Würthle war empfindlich mit den zu großen Worten. Sein Zeitalter, das der wilden Achtzigerjahre und das der Kunst, die gleichzeitig extrem funky, subversiv und populär war, endet nicht – dafür sind zu viele seiner Leute sehr lebendig, in den Galerien und den Sauflöchern in Berlin, Köln, Wien, New York und Zürich.
Coverversion der Woche: Britney Spears - The Beat Goes On
Heute hat Carol Kaye, die berühmteste unbekannte Bassistin der Welt Geburtstag. Sie hat auf so vielen legendären Aufnahmen mitgespielt, dass es fast unmöglich ist, einen Favoriten auszusuchen. Ich habe mich für “The Beat Goes On” von Sonny & Cher aus dem Jahr 1966 entschieden. Da auch Britney Spears einen Platz in meiner Vergangenheit hat, fand ich diese, nur auf den ersten Blick ungewöhnliche, Kombination passend.
Sonny Bono schrieb den Song 1966 und veröffentlichte ihn zusammen mit Cher als Single. 1967 erschien er auf dem Album “In Case You're in Love”. Es wurde am 14. Januar 1967 in die Billboard Hot 100 aufgenommen und erreichte Platz sechs. Am Bass: Carole Kaye. Sie sagte über ihn:
Well, "The Beat Goes On" is a biggie. I mean, it was a nothing song, and then the bass line kind of made that. But you'd have to say all of them. There's only a certain song, like "You've Lost That Lovin' Feelin'" that was guaranteed to be a hit because it was a great song. But about 95% of that stuff would not have been a hit without us, that's true.
Britney Spears, die nicht nur eine begnadete Sängerin ist, sondern auch einen guten Musikgeschmack hat, nahm 1999 eine der meiner nach gelungensten Versionen dieses unzählige Male gecoverten Stücks auf.
Epilog
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