Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte
Vergiss Deine Erklärungen, und Du wirst sehen! – Don Juan zu Castãneda
Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, hieß Dr. P. und war ein anerkannter Musikprofessor. Im Rahmen einer Diabetes Routineuntersuchung war dieser vom Augenarzt an den Neurologen Dr. Oliver Sacks (Autor des gleichnamigen Buches) überwiesen worden. Merkwürdigkeiten im Verhalten von Dr. P. hatten eine Sehschwäche vermuten lassen, die aber vom Augenarzt nicht bestätigt werden konnten. Immer wiederkehrende Umstände deuten darauf hin, dass Dr. P. nicht in der Lage war, Gesichter zu erkennen. Und manchmal sah er Gesichter, wo keine waren. Musikschüler, die zu ihm in den Unterricht kamen, erkannte er erst, wenn diese zu sprechen begannen. Und manchmal redete er freundlich mit einem verzierten Schranktürknopf und wunderte sich, warum der nicht antwortete. Man amüsierte sich über die komische Szene, aber niemand kam auf die Idee, dass bei dem sympathischen Musikprofessor ein schwerwiegendes Gesundheitsproblem vorlag.
Dr. P. stimmte einer neurologischen Untersuchung zu. Nach verschiedenen Tests war sich Dr. Sacks sicher. Er hatte es mit einem pathologischen Hirn zu tun. Ein letzter Test sollte Gewissheit geben. Der Neurologe zeigte dem Musikprofessor die Titelseite eines National Geographic Magazins und bat ihn zu erzählen, was er sah. Dr. P. war in der Lage, einzelne Teile, Farben, Figuren und Gestalten zu beschreiben. Das Bild als Ganzes schien er jedoch nicht wahrzunehmen. Dann kam es zu dem Titel der Geschichte. In der Annahme, dass die Untersuchung beendet sei, schaute sich Dr. P. nach seinem Hut um. Er griff danach, ergriff aber den Kopf seiner Frau, den er versuchte hochzuheben und auf seinen Kopf zu setzen. Seine Frau nahm es gelassen hin. Sie schien mit der Situation vertraut zu sein. Bei späteren Tests in der Wohnung des Musikprofessors bestätigten sich Dr. Sacks Beobachtungen. Dr. P. konnte Dinge sehen, aber er war nicht in der Lage, ihnen Bedeutung zu geben. Die Ehefrau von Dr. P. erklärte dem Neurologen, wie ihr Mann in der Lage war, seinen Alltag zu meistern, ohne dass er in den für ihn bedeutungslosen Trivialitäten wie Anziehen, Toilette machen und Esseneinnahme verloren ging. Er sang dazu.
Dr. Sacks war sich sicher. Bei Dr. P. lag ein schwerwiegender Defekt von Hirnfunktionen vor. Dessen Entwicklung als anerkannter Maler, der er auch war, schien diese Diagnose zu bestätigen. Seine Bilder, die überall in der Wohnung an den Wänden hingen, spiegelten den Krankheitsverlauf seines Hirndefekts. Die frühen waren gegenständlich, lebendig, naturalistisch und stimmungsvoll, die späteren dagegen nur noch kubistisch und abstrakt. Darauf angesprochen reagierte seine Frau leicht indigniert. Eine solche Entwicklung sei doch typisch für kreative Menschen wie Maler.
Die Stunde der Wahrheit nahte. Der Musikprofessor wollte wissen, was mit ihm nicht in Ordnung sei und welche Behandlung Dr. Sacks vorschlug. Die Antwort wird Sie alle überraschen. Dr. Sacks sagte zu Dr. P., dass alles in Ordnung sei. Er riet ihm, Musik nicht nur in den Mittelpunkt seines Lebens zu stellen, sondern Musik als sein Leben zu begreifen. Obwohl der Neurologe das Verhalten seines Patienten als eindeutig pathologisch eingestuft hatte, verschwieg er den Defekt. Er war sich sicher. Die Diagnose und die sich daraus ergebene Behandlung hätten schwerwiegende Auswirkungen für dessen Persönlichkeit und Identität gehabt und ein bis dahin reiches Leben zerstört.
Kritiker von Oliver Sacks werden jetzt auf die juristischen und ethischen Implikationen seines Verhaltens verweisen - und zu Recht! – Ein Arzt ist gegenüber seinem Patienten zur Wahrheit verpflichtet. Dieses Recht eines Patienten darf per Gesetz niemals außer Kraft gesetzt werden. Trotzdem glaube ich, dass Dr. Sacks „richtig“ gehandelt hat, wenn die Autorität seines Handelns sein Gewissen war. Und das kennzeichnet sich gerade dadurch, dass es seinen eigenen Gesetzen von Moral und persönlicher Verantwortung folgt, auch wenn am Ende die juristische Strafverfolgung droht. Es gibt aber meiner Meinung nach noch eine dritte Kraft, die Gewissen ausmacht. Liebe. Ohne sie würden Gewissensentscheidungen leicht zu Vernunftentscheidungen werden, denen eine Soll/Ist Abwägung vorangeht. In diesem Sinne hat Dr. Sacks seinem Patienten aus Liebe seine Diagnose verschwiegen.
Im Geiste dieser Menschenliebe möchte ich Sie zum Schluss einladen, die Haltung von Dr. Sacks noch weiter und noch radikaler zu fassen und „das Pathologische“ und „das Normale“ überhaupt in Frage zu stellen. Solange wir nämlich Menschen durch diese beiden Brillen betrachten, werden „die Erklärungen“, die mit ihnen zwangsläufig einhergehen, verhindern, dass wir „sehen“. Wenn wir Erklärungen für einen Moment vergessen würden, wie zum Beispiel „ADHS“, „Demenz“, oder „Manie“, dann könnten wir die Not der störenden Kinder sehen, die sich der Lerndressur in unseren Schulen verweigern. Wir könnten die Angst der „etwas anderen“ Menschen sehen, dass man sie für verrückt erklären und sie zur Einnahme von Psychopharmaka nötigen könnte. Und wir könnten die Not der älteren Menschen sehen, die in ihrem Leben Liebe vermisst haben und jetzt, weil sie nicht mehr funktionieren, aus der gewohnten Umgebung ihres Zuhauses gerissen werden, um in einem Pflegeheim auf ihren Tod zu warten. Das klingt dramatisch und ist es auch, für die Betroffenen und die Angehörigen. Ich weiß es von einer Mutter, die sich entschlossen hat, ihrem 15jährigen „verhaltensoriginellen“ Sohn kein Ritalin zu verabreichen, von einem Sohn, der seinen dementen Vater die letzten Monate seines Lebens begleitet hat und von einem Ehemann, der seine manische Frau im Alltag nicht nur erträgt, sondern verständnisvoll umsorgt.
Es steht mir nicht zu, die Schulmedizin in Frage zu stellen, und ich will auch nicht behaupten, dass ADHS, Manie oder Demenz keine Krankheiten sind und nicht behandelbar wären. Ich würde mir nur wünschen, dass wir all den Menschen, die ihren Hut mit ihrer Frau verwechseln oder sonst irgendwie die „Normalität“ stören, mit Liebe begegnen und ernst nehmen, anstatt sie durch krank erklären zu stigmatisieren und durch Verabreichung von Chemie ruhig zu stellen. Ist doch ihr Anders-sein Teil ihrer Würde, die wir in unserer Verfassung als unantastbar erklärt haben.