Prolog
Diejenigen, die meine Artikel über mehrere Jahre verfolgt haben, werden das vorliegende Sinn-Modell kennen. Ich hatte es zu dem Thema „Das Leiden am sinnlosen Leben“ entwickelt, um an ihm Sinngebung zu reflektieren. Die Schlüsselaussage, auf der ich damals argumentiert habe, war, dass Sinn nicht von außen kommt, sondern jeder Mensch für seine Sinngebung zuständig ist. Daraus lässt sich eine Definition von Sinn ableiten. Für einen Menschen macht alles das Sinn, was ihm wichtig ist. Das klingt trivial, wird aber dann zu einem Monster, wenn einem nichts mehr wichtig ist. Einige sehen dann nur noch den Ausweg im Suizid. Andere flüchten in die Drogen. Die gängige Lösung des Problems ist Trinken und Rauchen. Beide sind in unserer Gesellschaft ein „gutes“ Versteck für Sinnlosigkeit. - In diesem Artikel möchte ich am Beispiel der Corona-Krise auf eine Schieflage in der Sinngebung von Menschen hinweisen. Die offenbart sich für mich in drei miteinander verbundenen Phänomenen. Erstens, in der Dominanz des Dinglichen in unserem Leben. Dazu gehört ein unbeirrbarer Glaube an die Wissenschaften und an die Wahrheit der Zahlen. Die lügen bekanntlich nicht. Zweitens, in dem wenig ausgeprägten Misstrauen gegenüber dogmatischem Denken. Und Drittens, im fehlenden Glauben an eine transzendentale Kraft, die jedem Menschen innewohnt und die ihn über sich hinauswachsen lässt. - Bei der gedanklichen Vorgehensweise möchte ich auf ein Dilemma hinweisen, in dem sich jeder Schreibende befindet, der sein Publikum auf etwas fokussieren will. - Schaltet man den Kronenleuchter ein und erklärt das Ganze oder zündet man eine Kerze an und lässt den Beobachter seinen eigenen Fokus finden? - Ich habe mich entschlossen, beides zu tun. Wir werden mit einer Kerze loslaufen. Das Modell soll Ihnen als Karte zur Orientierung dienen.
Das Menschliche ist nicht messbar
Befürworter und Gegner der Corona-Politik argumentieren mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Beide Seiten führen Statistiken ins Feld. Sie sind Zahlen-Modelle, die suggerieren sollen, dass sie ein Abbild der Realität sind. Das sind sie eben nicht, genauso wenig, wie das vorliegende Sinn-Modell. Im Bereich der Technik ist das realitätsgetreue Anfertigen von Modellen statthaft und nützlich. Maschinen wie Flugzeuge, Autos oder Lokomotiven sind komplexe Systeme. Komponenten und deren Zusammenwirken sind bekannt. Ein realitätsechter Nachbau im Modell ist möglich und aus unterschiedlichsten Gründen wünschenswert. Als Beispiele seien Flugzeugsimulatoren und Modelleisenbahnen genannt. Ein realitätsechter Nachbau des Menschen ist wegen dessen Kompliziertheit als biologisches, fühlendes, denkendes und nicht zuletzt spirituelles Lebewesen nicht möglich. Modelle vom Menschlichen (Statistiken gehören auch dazu) sind Vereinfachungen, die helfen, Kompliziertheit zu verstehen. Sie als realitätsgetreue Abbildung herzunehmen, um damit „richtiges“ Handeln zu legitimieren, ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern in jeder Hinsicht unmenschlich. Ein solches Tun verdinglicht den Menschen und verstößt gegen seine Würde. - Wir sind seit fast zwei Jahren einer Corona-Politik ausgesetzt, die das alles ignoriert. Veränderung ist nicht erkennbar. Eine politische Heimat für Kritiker gibt es nicht und damit auch kein demokratisches Korrektiv. Damit sind große Lösungen gesellschaftlicher Probleme illusorisch. Ich halte sie auch nicht für menschlich. Die Geschichte zeigt, dass sie immer noch mehr Leid erzeugt haben. Von oben durchgesetzt führten sie in die Diktatur und von unten zur Guillotine. Die Lösung liegt meiner Meinung nach beim einzelnen. Wenn man will, das andere sich ändern, muss man sich selbst ändern. Es beginnt mit der eigenen Geisteshaltung.
Zweifeln, eine Bürgerpflicht
Einen mündigen Bürger kennzeichnet u.a., dass er sich über das Tagesgeschehen informiert und sich auch mit gegensätzlichen Meinungen auseinandersetzt und diskutiert. Dazu gehört auch Bildung. Damit ist nicht nur das Aneignen von Wissen gemeint, sondern das Bemühen um Verstehen. Wenn Menschen wie Frau Merkel in einem System groß geworden sind, dessen Glaubensbekenntnis war, die Gemeinschaft ist alles, der einzelne bedeutet nichts, kann man ihre Politik in der Corona-Krise verstehen und vielleicht auch gutheißen. Wenn aber Äußerungen fallen wie Lockdowns sind notwendig, weil alternativlos, sollten bei jedem, auch bei ihren Anhängern, die Warnlampen angehen. Solche dogmatischen Sätze kennt man von den Mächtigen der Kirche des Mittelalters und Diktatoren. Sie vermitteln den Eindruck, im Besitz der Wahrheit zu sein. Damit werden Andersdenkende mundtot gemacht, denn wer etwas anderes behauptet, ist zwangsläufig ein Lügner. – Beide Phänomene, die Verdinglichung alles Menschlichen und Geist ohne den Zweifel, verhindern meines Erachtens nicht nur eine menschliche Lösung der Corona-Krise, sondern auch Sinngebung zu einem erfüllten Leben. Die Lösung sehe ich in der Hinwendung zum dritten Phänomen. Es ist die Erkenntnis, dass der Mensch mehr ist, als ein biologisches Wesen mit einem intelligenten Hirn. Was das Mehr ist, entzieht sich jeder wissenschaftlichen Betrachtung und entfaltet dennoch eine Kraft, die Angst nehmen kann, Mut macht und gerade in der Not Menschen über alle Differenzen zusammenbringt.
Die größte Kraft im Universum
Vor einigen Jahren fuhr ich alle 14 Tage mit dem Auto von Hamburg in Richtung Aschaffenburg zum Umgang mit meinem kleinen Sohn. Auf halber Stecke an der Raststätte Göttingen habe ich immer Pause gemacht. Bei einem dieser Stopps hatte ich ein bemerkenswertes Erlebnis. Ich hatte gerade eingeparkt, als aus dem Auto neben mir ein Mann und eine Frau gesetzten Alters ausstiegen. Anstatt in Richtung Eingang zu gehen, trafen sie sich vor der Motorhaube und nahmen sich in den Arm. Für einige Sekunden sahen sie sich wortlos in die Augen. Dann fasten sie sich bei der Hand und gingen in die Raststätte. Ein anderes Paar, dass sich anschickte, in ihren Wagen zu steigen, hatte die Szene ebenfalls mitbekommen. Die Frau sagte: „Schau mal, ist das nicht wunderbar?!“ – Der Mann brummelte so etwas wie: „Muss Liebe schön sein“. Dann stiegen sie ein und fuhren davon. Die Frau wie der Mann hatten mir aus der Seele gesprochen. Ich meine diesen Satz wörtlich. Ich bin überzeugt davon, dass zum Menschsein die Sphäre der Seele gehört und dass sie der Ursprung dessen ist, was wir Liebe nennen. Ihre Existenz ist weder messbar noch wissenschaftlich nachweisbar. Man kann das Wirken ihrer universellen Kraft nur erfahren. Es ist unerheblich, aus welcher Quelle ein Mensch diese Kraft schöpft, ob über die persönliche Erfahrung des Lieben und geliebt werden oder über den Glauben an Gott oder über spirituelle Naturverbundenheit oder über leuchtende Persönlichkeiten der Geschichte wie Gandhi oder Martin Luther King. Wichtig allein ist, dass Menschen, besonders in Notzeiten wie jetzt, wieder lernen, auf diese Kraft zu vertrauen. Das bedeutet, über alle Lager-Mentalität hinweg den anderen mit Achtsamkeit begegnen, dessen Ängste ernst nehmen und vor allem ihn in den Arm nehmen. Das meine ich bildlich und wörtlich. In einer solchen Solidarität wären Infrage stellen und Diskurs möglich, die zu einem gesunden Weg aus der Krise führen könnten. „Wer nicht liebt, der lebt nicht“, schrieb der US-amerikanische Professor der Pädagogik, Leonardo Buscaglia, in seinem Buch „Liebe“. Ich möchte ergänzen, der wird krank. So gesehen ist die Einbeziehung der größten Kraft im Universum in sein Leben der beste Schutz vor Krankheit. Sie würde nämlich den Geist dazu bringen, die krank machende Dominanz des Dinglichen zu beenden. Die Sphären der Sinngebung wären in Harmonie. Oder wie der griechische Philosoph Aristoteles sinngemäß gesagt hat: Glücklich ist der, der in Allem sein eigenes Maß findet.