Die psychopathische Gesellschaft
„Das erste Wirkende eines Erziehers ist sein Sein. Das zweite, was er tut. Und das dritte erst, was er sagt.“ - Romano Guardini*
Eine große Anzahl von zerfetzten Körpern und verwundeten Männern lagen verstreut auf dem Hohlweg. John Gordon vom 6. Alabama Regiment taumelte einige schmerzvolle Schritte als eine Kugel ihn mitten ins Gesicht traf, genau unter dem linken Auge. Der Einschlag ließ seinen Kopf nach hinten schnappen, was sein Kepi mit der Oberseite nach unten auf den Boden schleuderte. Er schlug mit seinem Gesicht auf dem Boden auf und wurde bewusstlos.
Die Sanitäter fanden ihn ausgestreckt wie ein Mannequin, mit seinem Gesicht eingetaucht in das von Blut angefüllte Kepi. Sie rollten ihn sofort auf den Rücken und hievten ihn auf ihre Trage. Bei jedem Atemstoß pulsierte das Blut heftig aus der Austrittswunde an der rechten Seite seines Halses. Einer seiner Retter bemerkte später, dass Gordon in seinem eigenen Blut ertrunken wäre, hätte eine Yankee-Kugel nicht sein Kepi durchlöchert. (übersetzt aus Antietam – The Soldiers´Battle Seite 170)
Die beschriebene Szene ist im US-amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) passiert. Solche und ähnliche gehörten vier Jahre lang zum Horror des Alltags der Soldaten des Nordens (Yankees) und des Südens (Rebellen). John Michael Priest hat die Ereignisse der Schlacht von Antietam (1862) anhand von Soldatenbriefen beider Seiten minutiös nachvollzogen. Sein Buch, was leider nur im Englischen zu lesen ist, liefert nicht nur ein Zeugnis amerikanischer Geschichte, sondern vor Allem einen Eindruck von dem unendlichen Leiden, dem Tausende von jungen Soldaten täglich ausgesetzt waren. Im Angesicht der „Großartigkeit“ solcher verklärten Kriege werden diese Leiden schnell vergessen bzw. man verklärt sie selbst als notwendiges Opfer um der gerechten Sache willen, Abschaffung der Sklaverei und Bewahrung der Einheit der United States of America als eine Nation der „Mutigen und Freien“. Wie sich die Geschichte der USA und damit der Welt entwickelt hätte, wenn Washington (der Norden) den Südstaaten Unabhängigkeit gewährt hätte, weiß niemand. Sicher ist, dass ohne den Bürgerkrieg Hundertausenden von Soldaten und ihren Familien das Leiden erspart worden wäre. Nun mögen Gedankenspiele einer „Alternate History“ interessant sein, sie gehen aber meiner Meinung nach an der eigentlichen Frage vorbei.
Nach zwei Weltkriegen mit Millionen von Toten hatte die Weltgemeinschaft unter der Führung der USA über die Charta der Vereinten Nationen Kriege für verboten erklärt. Trotzdem führen demokratische Staaten, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlen, immer noch Krieg bzw. heißen sie gut oder unterstützen sie. Dabei argumentieren Politiker immer wieder mit Moral und Ethik. Im Fall des Ukraine-Krieges tun es nicht nur „die Falken“ der politischen Klasse, sondern auch Vertreter der einstigen Friedensbewegung (hier die Grünen) und nicht zuletzt Journalisten der Mainstream-Medien, von denen man eigentlich des Selbstverständnisses wegen eine kritische Haltung gegenüber Krieg erwarten könnte. Wie ist es möglich, dass vor dem Hintergrund des Leidens von Tausenden Soldaten, wie im obigen Beispiel beschrieben, Menschen unserer Kultur immer noch Krieg das Wort reden und bereit sind, diesen durch Waffenlieferungen zu verlängern? – Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Abhängigkeiten von den USA, die ein Mitmachen erklären könnten, sind mir als Begründung zu oberflächlich. Ich sehe eine tiefere Ursache. Es ist die Unfähigkeit, mit dem Leid anderer Menschen mitzufühlen. Im Folgenden soll diese Ursache näher erklärt werden.
Studien belegen, dass die Unfähigkeit des Mitfühlens ein Wesensmerkmal von Psychopathen ist. Die Untersuchungen beschränkten sich nicht nur auf Straftäter, sondern auch auf Führungspersonen der Wirtschaft. Es wurde festgestellt, dass deren gesellschaftlich anerkannte Fähigkeiten wie Dominanz und Durchsetzungsvermögen immer wieder auch mit psychopathischen Verhaltensmustern einhergehen. Solche Personen zeigen oft gelerntes Mitfühlen. Sie wissen, wann es nützlich ist und setzen es zu ihrem Vorteil ein. Die kapitalistischen Gesellschaften von 1861 und heute zeigen hier dasselbe pathologische Muster. Trotz dieser Erkenntnisse halte ich ein Pathologisieren des Problems für wenig hilfreich. Die Ursache liegt tiefer, ist in unserer Kultur begründet.
Der amerikanische Psychologe Goleman schreibt in seinem Buch „Emotionale Intelligenz“, dass schon kleine Kinder im frühen Alter die Fähigkeit des Mitfühlens besitzen. Es scheint uns angeboren. Vielleicht kennen Sie die folgende Situation. Eine Mutter geht mit ihrem Einjährigen in einem Supermarkt einkaufen. Plötzlich hört man ein paar Warengänge weiter ein kleines Kind weinen. Ihr einjähriges Kind verzieht das Gesicht. Es macht ein „Schüppchen“ und beginnt wenig später auch an zu weinen. Es fühlt mit. Wenn ihr Kind in Liebe aufwächst, wie viele unserer Kinder, wird es diese Fähigkeit behalten, bis es in die Kultur der Leistungsgesellschaft eintaucht. Da geht es in der Hauptsache darum, erfolgreich zu sein, besser als der andere zu sein. Eine solche Haltung ist wiederum kontraproduktiv zu der Erkenntnis, dass man nur im Team komplexe Aufgaben und Probleme lösen kann. Man hat dieser Erkenntnis Rechnung getragen und Schlüsselkompetenzen erklärt, sogenannte Soft-Skills. Ihr Erwerb sollte funktionales Mitfühlen möglich machen. Mitgefühl für einen Zweck, wie pervers ist das. Die Perversität hat Methode, wie folgendes Beispiel zeigt.
Vor einigen Jahren trafen sich bei Airbus in Finkenwerder Vertreter von Politik, Hochschulen und der Luftfahrtindustrie zu einem der regelmäßig stattfindenden parlamentarischen Wissenschaftsabende. Das Thema lautete „Bachelor- und Master, Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Bologna Prozess vor dem Hintergrund des Ingenieurmangels in Deutschland“. Alle Redner stellten fest, dass der Wechsel vom alten Ausbildungssystem (Studium zum Diplom-Ingenieur) auf das neue gelungen sei. Allein, die Verkürzung der Studienzeit könnte zu einem Problem führen. Nimmt man den Wegfall der Wehrpflicht hinzu, dann sind fertigstudierte Ingenieure nach dem neuen System 21 Jahre alt. Sie hätten noch nicht die Lebenserfahrung eines 24jährigen. Pflichtkurse in Soft-Skills sollten das Problem lösen. Studenten müssen jetzt eine vorgeschriebene Anzahl von Creditpoints in diesen Schlüsselkompetenzen vorweisen, um graduieren zu können. Zustimmender Beifall und selbstgefälliges verbales Schulterklopfen bei den Verantwortlichen.
Fazit: In unserer Leistungsgesellschaft ist das uns naturgegebene Mitfühlen mit anderen einem Zweckdenken zum Opfer gefallen. Die Auswirkungen erleben wir gerade in der unmenschlichen Kriegspolitik unserer Regierung, die nicht nur die Opfer des Gegners ignoriert, sondern auch die der eigenen Bevölkerung. Einige Politiker, Journalisten und Experten in unserer Gesellschaft prangern sie an und argumentieren mit Fakten. Es wird nicht viel nützen, ist zu befürchten. Das Problem liegt nämlich nicht im Verstand, sondern in einem Gefühl, das in unserer Gesellschaft, systemisch bedingt, verschütt gegangen ist. Die Frage nach einer Lösung verbietet sich. Ein Gefühl lässt sich nicht herbeidenken. Bleibt mir nur noch, demutsvoll auf das Zitat von Romano Guardini zu verweisen. Äußeren und inneren Frieden bekommen wir nur, wenn wir mitfühlend SIND. Worte und Taten folgen.