„Oliver, geh bitte an Deinen Platz!“ – Oliver tat so, als hätte er mich nicht gehört. Eine Mädchenstimme in der letzten Reihe schrie auf. „Herr Scholz, Oliver hat mir meine Trinkflasche weggenommen!“ Als der Junge mich kommen sah, warf er die Flasche in Richtung Mädchen und bequemte sich, in Zeitlupe zurück zu seinem Platz in der ersten Reihe zu gehen. Ich verkniff mir eine Predigt. Wenn man Kindern predigt, lernen sie selten das, was man predigt. Sie lernen höchstens predigen.
Die Unterrichtsstunde hatte vor einigen Minuten begonnen. Vor mir lagen zwei Stunden PGW (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft) in einer 8. Klasse, Weder die Schulklingel noch meine Anwesenheit am Pult hatten vermocht, die Schüler zu bewegen, mit Schwatzen und Toben aufzuhören und der Disziplin des Unterrichtsbeginns zu folgen. Da ich nichts von Machtspielen mit Kindern halte, vor Allem nicht, wenn sie in der Pubertät sind, vertraute ich lieber auf meine Empathie und verzichtete auf einen geordneten Unterrichtsbeginn. Für solche Fälle habe ich auf meinem USB Stick immer ein paar Clips dabei. Ich startete also eine kleine Sequenz aus der US Fernseh-Serie „Die Dinos“. Sofort wurde es still in der Klasse. Jeder huschte zu seinem Stuhl, um nichts zu verpassen. In der ersten Szene sitzt das Dino-Baby bei seinem Vater auf der Schulter und schlägt diesem immer wieder mit einem Kochtopf auf den Kopf. Dabei ruft es:“ Nicht die Mama, nicht die Mama, nicht die Mama!“ – Die Kinder waren hellauf begeistert und wollten noch mehr sehen. Ich vertröstete sie und versprach, dass, wenn wir unsere Arbeit getan hätten, ich noch einen Clip zeigen würde.
Die Augen der Kinder waren nun nach vorn auf mich gerichtet. Ich bat sie aufzustehen, damit wir uns begrüßen können. - „Guten Morgen!“ – Ihre Antwort kommt in einem merkwürdigen Singsang zurück. Er klingt fast so wie ein liturgischer Gesang aus der katholischen Kirche: „Guten Morgen Herr Scholz!“ - Es ist ein Ritual aus der Grundschule, und sie tun es immer noch, ohne dass man es von ihnen verlangen würde. Für einen Moment war die Klasse eine Einheit. Die Kinder setzten sich hin und schauten mich erwartungsvoll an. Die Vorfreude auf noch mehr „Dinos“ hatte sie fokussiert. - Ich zeigte ihnen das Bild einer Boeing 747 der Lufthansa und fragte, wer von ihnen schon einmal geflogen sei. Die Finger schnellten hoch. Die meisten waren schon einmal geflogen. Ich fragte, was das Bild wohl mit Globalisierung zu tun haben könnte. Dieses Mal gingen nicht nur die Finger hoch. Das Mitteilungsbedürfnis ließ sie ihre Antworten in die Klasse rufen. „Reisen, Tourismus, Umwelt …“. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Oliver, der wieder in seiner Umgebung für Unruhe sorgte. Lässig saß er auf seinem Stuhl, den er gefährlich schräg nach hinten gekippelt hatte. Er versuchte, dem Mädchen hinter ihm das Mäppchen zu wegzunehmen. Die wehrte sich und protestierte lautstark. Ich bitte Oliver, sich zu mir umzudrehen und sich gerade hinzusetzen, dem er nach mehrmaliger Aufforderung schließlich „gnädig“ nachkam. Dann stellte ich ihm die Frage noch einmal. Was hat das Flugzeugbild mit Globalisierung zu tun? - „Weiß ich nicht,“ kam als Antwort, „ich bin dumm!“ – Ruft das Opfer der Mäppchen-Attacke: „Er hat ADHS!“ – „Das weiß ich nicht,“ antwortete ich. „Ich habe da meine Zweifel, ob es eine solche Krankheit gibt.“ Einige Kinder protestierten. Natürlich gibt es ADHS. Ich erzählte ihnen von meinen Erfahrungen, die ich in den Jahren als Vertretungslehrer an verschiedenen Schulen gemacht hatte. Kinder wollen sich bewegen und etwas tun, wozu sie Lust haben. Wenn sie gezwungen sind, den ganzen Tag mit wenigen kurzen Pausen auf harten, unbequemen Stühlen still zu sitzen und immer wieder nicht verstehen oder der Unterricht langweilig ist, dann ist es kein Wunder, wenn sie frustriert sind und anfangen zu stören.
Jetzt war es mäuschenstill in der Klasse. Ich entschloss mich, das vorbereitete Globalisierungsthema nicht weiter zu verfolgen und zu den Dinos zurückzukehren. Ich zeigte den Clip „Nicht die Mama“ noch einmal. Er erzeugte ähnliche Heiterkeit, wie schon zuvor. Dann fragte ich, welchem Bereich des Faches PGW sie die Szene zuordnen würden und warum. Ich wandte mich Oliver zu. Hast Du eine Ahnung? – „Das ist ein Gesellschaftsthema. Bei uns werden Kinder von der Mutter großgezogen. Der Vater hat keine Zeit, weil er arbeiten und Geld verdienen muss. Mein Vater kommt erst am Wochenende nach Hause. Dann bringt er mir immer etwas mit. Letztens habe ich sogar ein IPad bekommen. Darüber freue ich mich natürlich. Aber sonst habe ich nicht viel von meinem Vater. Er ist eben nicht die Mama.“ – Einige Kinder nickten zustimmend. Andere meldeten sich und wollten von ihrem Zuhause erzählen. Die Pausenklingel beendete eine Diskussion, die noch gar nicht richtig begonnen hatte. Vielleicht war sie auch nicht notwendig. Man wird sicherlich zuhause von der Unterrichtsstunde erzählen und vielleicht die Erwachsenen der Familie in ihrem Selbstbildnis stören, so wie Oliver mich gestört und dazu gebracht hatte, meinen Unterrichtsplan über den Haufen zu werfen. Getreu dem Motto, wenn nichts mehr geht, tue das, wozu Du Lust hast, hatte ich den Kindern spontan das angeboten, was auch mir immer Spaß gemacht hat. Ein Clip der Dinos mit klugen Sprüchen des Babys. Dieser eine Schnack zieht sich durch alle Folgen der Serie. Das Baby nennt seinen Vater „nicht die Mama“.
Nun ist es in unserer Kultur eine Binse: Alle Kinder brauchen Mama. Aber sie brauchen auch Papa, und der ist mehr als nur „nicht die Mama“. Diese Erkenntnis ist in unserer Kultur immer noch nicht angekommen. Man(n) verharrt immer noch in der Opferhaltung, die Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Männer“ besingt. Sogar die Grammatik unterstützt dieses Opfertum durch die Steigerungsformen Komparativ und Superlativ. Männer sind stärker, schneller und erfolgreicher und natürlich der klügste, der beste und der fähigste von allen. Jungen sind auf Grund ihrer Gen-bedingten Instabilität, die sie durch Hinwendung zum Äußeren kompensieren (Bagger, Panzer, Rennwagen u.a.), sehr empfänglich für solche Attribute. Schule, in der es um Messen und Vergleichen geht, bedient und verstärkt sie noch. Das Ergebnis, der „fertige“ Mann, führt dann später große Organisationen, Unternehmen und Regierungen und manchmal auch Kriege. Das ist keine wissenschaftliche Feststellung, sondern eine philosophische. Tatsache ist: Am Anfang von allem stehen der Vater und männliche Bezugspersonen. Deren wichtigste Aufgabe bestünde darin, Jungen vom Außengeleitet zum Innengeleitet zu bringen. – Wie das geht, fragen Sie? -
Nehmen Sie ihren Jungen ernst, wenn er stört. Er muss deswegen nicht krank sein. Unterstützen sie ihn, „sein Ding“ zu finden und zu machen, auch wenn es Ihnen sinnlos erscheint. Das fördert den Eigensinn (den Sinn für das Eigene – Hermann Hesse) Zeigen sie Interesse für das, was er tut, und loben sie ihn, auch wenn das Ergebnis nicht so war, wie erwartet. Das gibt Selbstvertrauen. Und immer wieder, nehmen Sie ihn in den Arm, wenn er es am wenigsten verdient hat, denn dann braucht er es am meisten. Das Wort dafür ist Geborgenheit. - Wer weiß? – Wenn die Putins, Bidens, Selenskyis, und wie sie noch alle heißen, solche Väter gehabt hätten, der Ukraine-Krieg wäre vielleicht gar nicht passiert.