Produktivität unter der Lupe 1/5
Wenn Aufgaben auf die weitere Bearbeitung warten müssen, geht die Produktivität in den Keller
Im Unternehmen sollen alle möglichst produktiv sein. Um die Produktivität gerade mittels Digitalisierung zu erhöhen, werden Andrea Kaden und ich um Unterstützung gebeten. Was aber Produktivität genau ist, ist vielen Kunden nicht klar; trotzdem wissen sie genau, dass es ihnen daran mangelt. Aus dieser Verständnislücke erwachsen dann leider oft Verwunderung oder Missverständnisse, wenn wir die eine oder andere Maßnahme vorschlagen. Deshalb möchte ich einen genaueren Blick auf den Begriff werfen.
Begleiten Sie mich auf einer Erkundungsreise: Als Beispiel soll uns zunächst Manager Martin dienen. Martin hat für seine Mitarbeiterin Michelle immer eine Menge Aufgaben. Hier sind es drei unterschiedlichen Umfangs, die er Michelle in einem gewissen zeitlichen Abstand vorlegt.
Die mit Michelle abgestimmte Erwartung ist, dass Aufgabe A ca. 10 Stunden von Michelles Aufmerksamkeit braucht, Aufgabe B 12 Stunden Aufwand erfordert und Aufgabe C in 5 Stunden erledigt werden kann.
Können Sie jetzt schon eine Aussage darüber machen, wie produktiv Michelle ist? Nein. Es ist ja noch nichts von Michelles Arbeit zu sehen.
Ok, dann schauen Sie einmal, was Michelle mit den Aufgaben macht:
Michelle liefert die Ergebnisse ihrer Arbeit nach einer gewissen Zeit nach Erhalt der Aufgaben. Was sagen Sie jetzt? War Michelle produktiv?
Können Sie überhaupt eine Aussage über die Produktivität machen? Wenn Nein, welche Information fehlt ihnen? Der Aufgabenumfang ist bekannt. Was bräuchten Sie noch an Information?
Ist Produktivität nicht so etwas wie Leistung? Und Leistung wird in der Physik definiert als Arbeit pro Zeiteinheit. Sie würden deshalb vielleicht gern wissen, ob Michelle die ganze Zeit fleißig gewesen ist? Ja, ich kann Ihnen versichern, dass Michelle unermüdlich war. Sie hat vom Erhalt der Aufgabe A bis zur Lieferung des Resultats für B pausenlos geschafft.1 Später zeige ich Ihnen genau, wie Michelle ihre Arbeitszeit verbracht hat.
Können Sie jetzt etwas über die Produktivität von Michelle sagen? Sie hat insgesamt 27 Stunden in die Bewältigung der drei Aufgaben gesteckt. Ist ihre Produktivität deshalb 27 Stunden? Nein, die Stunden müssen ins Verhältnis zur Arbeit gesetzt werden. Wie wird die gemessen? Auch in Stunden? Ist die Produktivität dann (10+12+5)=27/27=1 also 100%? Zu erwarten war, dass alle Aufgaben in 27 Stunden erledigt werden — und diese Erwartung hat Michelle erfüllt. Michelle war also maximal produktiv?
Das scheint mir keinen Sinn zu machen. Denn wenn Sie genau hinschauen, hat sie keine Aufgabe in der abgesprochenen Zeit erledigt. Ihre Lieferzeit (Delivery Time (DT)) lag stets deutlich über dem erwarteten Aufwand.
Für Aufgabe A hat Michelle 60% mehr Zeit gebraucht — 16 Stunden statt 10; der Verzug ist (16-10)=6 Stunden zu 10 Stunden, also 60% —,
für Aufgabe B 91% mehr und
für Aufgabe C 120% mehr.
Michelle war 27 Stunden lang fleißig und hat so unzuverlässig geliefert? Würden Sie das produktiv nennen? Wären Sie in der Rolle von Martin damit zufrieden?
Wir bei Zeitgewinn Hamburg sind es jedenfalls nicht. Späte und unzuverlässige Lieferung von Resultaten ist für uns ein zentrales Symptom dafür, dass etwas bei der Arbeitsorganisation im Argen ist.
Michelle ist sicher fleißig; sie ist sogar am Ende der Arbeit geschafft. Aber produktiv finden wir nicht, wie sie arbeitet. Um das zu verstehen, lassen Sie uns genauer hinschauen, wie Michelle an den Aufgaben gearbeitet hat.
Round-Robin Multi-Tasking
Ich hatte ihnen versprochen zu belegen, dass Michelle wirklich unermüdlich war. Sie sehen hier, wie Michelle ihre Arbeitszeit genutzt hat:
Eine Pause ist nicht zu erkennen. Dafür aber ein häufiger Wechsel zwischen den Aufgaben. Michelles Arbeitsweise war diese:
“Ich beginne jede Aufgabe, sobald Martin sie mir übergibt. Damit zeige ich ihm, dass ich nicht trödle bei der Arbeit.”
“Wenn ich mehrere Aufgaben angefangen habe, arbeite ich an jeder maximal eine Stunde. Dann wechsle ich zur nächsten, um dort etwas weiter zu kommen. So mache ich ständig Fortschritte bei allen Aufgaben.”
Michelle hat also im ganz klassischen Sinn Multi-Tasking betrieben. Wie ein Computer hat sie jeder Aufgabe, die noch unerledigt war, eine “Zeitscheibe” von 1 Stunde gewidmet. War diese Stunde um, hat sie sich die nächste Aufgabe vorgenommen in Reihenfolge des Aufgabeneingangs (round-robin (RR)).
Die “Zeitscheibe” von 1 Stunde hat sie lediglich nicht eingehalten, solange es nur eine Aufgabe gab oder wenn der Abschluss einer Aufgabe weniger Zeit gebraucht hat oder wenn eine neue Aufgabe vorlag. Neue Aufgaben haben also die Arbeit an einer anderen unterbrochen. Auf diese Weise war Michelle “responsive”; auf jede Bitte Martins hin konnte sie sagen, “Klar, das mache ich. Ich fange gleich damit an.” Das hat Martin gut gefallen. Welcher Manager möchte nicht solch eifrige Mitarbeiter haben?
Hört sich das für Sie auch gut an? Für uns nicht. Denn schauen Sie, was mit den einzelnen Aufgaben passiert ist:
In diesem Bild geht es nicht mehr darum, ob Michelle die ganze Zeit beschäftigt war. Der Fokus ist nicht mehr die Ressource. Jetzt geht es um die Aufgaben. Und da sehen Sie, dass die Aufgaben oft auf die Ressource gewartet haben (Wait Time (WT)).
Stellen Sie sich die Aufgaben als Patienten in einer Arztpraxis vor. Dann sehen Sie, dass der Arzt pausenlos arbeitet — aber die Patienten viel auf ihn warten müssen. Der Arzt huscht von Behandlungszimmer zu Behandlungszimmer, macht eine Kleinigkeit und verschwindet dann immer wieder, um in unbestimmter Zeit wiederzukommen für weitere Behandlungsschritte.
Versetzen Sie sich in die Lage der imaginierten Patientin B. Würden Sie gern so behandelt werden? Sie kommen in die Arztpraxis, werden sofort in ein Behandlungszimmer geführt, der Arzt erscheint auch unmittelbar — doch dann zieht sich ihre Konsultation hin. Die eigentlich nötige Zeit (hier: 12 “Zeiteinheiten”) wird auf fast das Doppelte (hier: 23 “Zeiteinheiten”) ausgedehnt.
Als Patienten B ist Ihre Touch Time (TT), d.h. die Zeit, in der der Arzt sich Ihnen wirklich widmet nur 52% der Gesamtzeit, die Sie im Behandlungszimmer verbringen. Die Zeit “im Fluss der Behandlungen” der Arztpraxis (Flow Time (FT)) ist deutlich größer als die Touch Time, weil sie so viel Wait Time erdulden müssen. D.h. die Behandlungseffizienz, die Flow Efficiency (FE), ist nur 52%.
Der Arzt in der imaginierten Praxis hat eine löbliche Absicht so wie Michelle. Er will neue Patienten nicht warten lassen. Das fühlt sich für die Patienten im ersten Moment auch sehr gut an. Wer möchte schon lange im Wartezimmer sitzen? Sofort ins Behandlungszimmer geführt zu werden und den Arzt unmittelbar zu sprechen, ist doch ein toller Service.
Ja, ein toller Service — bis dem nächsten Patienten derselbe Service geboten werden soll. Denn dann unterbricht der Arzt die gerade begonnene Behandlung und verschwindet auf unbestimmte Zeit. Was toll angefangen hat, wird schnell zu einem Frusterlebnis.
Wovon hängt es ab, wann der Arzt wiederkommt? Wann widmet sich Michelle einer Aufgabe wieder, nachdem sie sie wegen einer anderen zur Seite gelegt hat? Das ist ungewiss. Es hängt ganz davon ab, wie viele Patienten bzw. Aufgaben gleichzeitig in Bearbeitung sind. Die Wait Time ist also vom Work in Process (WIP) abhängig.
Je höher WIP, desto mehr Wartezeit für die Aufgaben.
Zusatzaufwand durch Umschalten
Und es ist sogar noch schlimmer! Multi-Tasking ist nicht ohne eigenen Aufwand. Das Umschalten von einer Aufgabe zur anderen kostet etwas Zeit. Wenn der Arzt zurück zu einer Patientin in einem Behandlungszimmer kommt, muss er sich einen Moment besinnen, was bei ihr der Fall ist. Diese Switch Time (ST) trägt weiter auf die Wait Time auf.
Genauso geht es Michelle. Sie mag sich genau takten und alle Stunde zur nächsten Aufgabe wechseln. Für die muss sie dann allerdings einen Moment überlegen, wo sie war, was jetzt als nächstes dran ist usw. Sie muss ihr vorheriges mentales Modell wiederherstellen. Das verzögert den Anfang etwas. 5min oder 10min Umschaltaufwand sind zu erwarten. Die Lieferung verzögert sich damit weiter. Der Umschaltaufwand ist im Grunde sogar Teil der Touch Time, die dadurch wächst. Je nach Zahl der Aufgabenwechsel können so z.B. aus den 12 geplanten Stunden für Aufgabe B auch 13 Stunden TT werden und die Ergebnislieferung erst nach 24 Stunden DT stattfinden.
Im Weiteren will ich von der Switch Time jedoch absehen. Sie macht das Ergebnis nur schlechter, verkompliziert die Darstellung jedoch. Die zentrale Erkenntnis, dass Multi-Tasking zu einer unbestimmten Verzögerung der Lieferung, d.h. zu Unzuverlässigkeit führt, bleibt dieselbe. Ich hoffe, das ist Ihnen in diesem Beispiel schon klar geworden.
Hohe Flow Efficiency macht Produktivität aus
Was ist nun mit der Produktivität? Ist Michelles Leistung hoch?
Michelle ist 27 von 27 Stunden tätig. Mehr geht nicht.
Michelle schafft (idealisiert) alle Aufgaben in der erwarteten Gesamtzeit.
Michelle reagiert sofort auf neue Aufgaben.
Was will Martin mehr? Es sieht so aus als sei Michelles Produktivität mindestens erwartungsgemäß. Höher wäre sie natürlich, wenn sie nicht 27 Stunden, sondern vielleicht nur 25 Stunden gebraucht hätte.
Ist es also das: Die Produktivität ist das Verhältnis zwischen benötigtem Aufwand und erwartetem Aufwand? In diesem Beispiel war der erwartete Aufwand 27 Stunden und der reale ebenfalls, d.h. die Produktivität 27/27=1=100%? Und wenn der benötigte Aufwand nur 25 Stunden gewesen wäre, dann wäre die Produktivität 27/25=1,08=108%, also 8% höher als erwartet?
Ja, das hätte Martin sicher ein Lob abgerungen, wenn Michelle alle Aufgaben in nur 25 Stunden erledigt hätte. Er würde ihre hohe Produktivität schätzen.
Aber wenn das wahr ist… warum dann die Produktivität anhand einer Reihe von Aufgaben beurteilen? Was ist mit der einzelnen Aufgabe? Sicher, Michelle hat alle Aufgaben in 27 Stunden erledigt — jede einzelne Aufgabe hat hingegen deutlich länger gedauert.
Schauen Sie oben die Flow Efficiency Werte an: Dort wird mit Touch Time und Flow Time ebenfalls der erwartet Aufwand dem realen gegenübergestellt. Das, was ich eben Produktivität genannt habe, ist die Flow Efficiency für alle Aufgaben. Insgesamt scheint sie idealisiert 100%; aber für die einzelnen Aufgaben ist sie lediglich 63% (A), 52% (B) und 45% (C) oder im Durchschnitt 53%. Das hört sich gar nicht gut an. Michelle ist im Durchschnitt nur halb so schnell mit der Lieferung, wie erwartet.
Und damit sind wir im Herzen des Produktivitätsproblems: Wo die Produktivität im Keller ist, sind die Symptome deutlich längere Lieferzeiten als nach Aufwandsschätzung zu erwarten und unzuverlässigere Lieferung. Nicht nur dauert die Lieferung viel länger, es ist noch nicht mal klar, wie viel länger. Und das ist sogar der Fall, wenn sonnenklar ist, was je Aufgabe getan werden muss und keine Abhängigkeiten zu anderen Ressourcen bestehen. Sollten auch noch Unklarheit herrschen und Abhängigkeiten existieren… dann implodiert die Produktivität, wenn die Arbeit so naiv organisiert ist wie bei Michelle.
Denn das ist sie: Michelle arbeitet fleißig, gutwillig, aber naiv und deshalb je Aufgabe unzuverlässig. Das ist es aber, was Martin spürt. Wenn er ihr die Aufgaben A, B und C überträgt, dann interessiert es ihn nicht, ob sie irgendwann insgesamt nach der erwarteten Zeit geliefert sein werden. Nein, ihn interessiert jede Aufgabe für sich. Wenn Martin Aufgabe A an Michelle übergibt mit der Vorstellung, dass sie dafür 10 Stunden braucht, dann erwartet er ein Ergebnis in 10 Stunden; wenn er ihr wenig später Aufgabe B überträgt, rechnet er damit, deren Ergebnis in 12 Stunden zu bekommen; und später für C will er höchstens 5 Stunden warten.
Auch diese Vorstellung von Martin ist natürlich naiv, wenn er sich keine Gedanken über die Belastung macht, der er Michelle aussetzt, doch erstmal ist seine Vorstellung so. Deshalb wird er nach 11 oder 12 Stunden ungeduldig bei Michelle anklopfen und fragen, wo denn das Resultat für A bleibt. Oder wie würden Sie reagieren, wenn sich A 2, 3, am Ende sogar 6 Stunden verzögert? Wären Sie nicht auch unzufrieden und würden die mangelnde Produktivität von Michelle beklagen? Allemal, wenn sich solche Verzögerung auch noch bei den Aufgaben B und C wiederholt?
Aber was ist das Problem? Ist Michelle nicht fleißig? Doch, sie ist fleißig; sie tut, was sie kann; sie ist pausenlos am Schaffen. Aber das reicht nicht. Sie ist trotzdem mit allen Aufgaben im Verzug. Wenn Michelle so weiter arbeitet, wird sie einen Ruf von Unzuverlässigkeit bekommen.
Wie kann dieser unproduktiven Situation abgeholfen werden?
Welche Glaubenssätze aufgegeben und welche Prinzipien stattdessen angenommen werden sollten, stelle ich Ihnen im nächsten Artikel vor.
Natürlich ist das arbeitsrechtlich und auch gesundheitlich keine gute Arbeitsweise. Auch wäre anzunehmen, dass die Qualität der Arbeitsergebnisse unter solcher Pausenlosigkeit leiden. Doch ich mache diese Annahme hier einmal der Einfachheit halber. Pausen und Tageswechsel in die Darstellung aufzunehmen, würde das Beispiel schwerer zu durchschauen machen, ohne einen weiteren Erkenntnisgewinn zu bieten. Und umgekehrt schmälert diese Vereinfachung auch nicht den Erkenntnisgewinn.